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Die Hexengabe: Roman (German Edition)

Die Hexengabe: Roman (German Edition)

Titel: Die Hexengabe: Roman (German Edition)
Autoren: Beatrix Mannel
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ihre Schuhe und wanderte am Fluss entlang. Sie hatte keine Angst, überfallen zu werden, denn in der Stadt kursierten die wildesten Gerüchte darüber, was für Gräuel sich in ihrem Handschuh verbargen. Niemand würde es riskieren, sie anzufassen. Die Einzige, die den Hexenfinger jemals berührt hatte, war ihre Halbschwester gewesen. Dorothea.
    Rosa seufzte und blieb unwillkürlich stehen, lehnte sich erneut über die Brüstung und starrte aufs Wasser. Sie griff nach dem Medaillon. »Sing mir was«, hatte sie Dorothea ständig angebettelt, woraufhin Dorothea dann ein völlig verrücktes Lied erfand, mit Worten, die es gar nicht gab. Am allerliebsten hatte Rosa die Geschichten von den sieben Eiern gehört. In jedem Ei war etwas anderes: In einem lebte der Mut, in einem anderen wohnte eine kleine Maus, ein krummer Nagel, ein Wort, das traurig war, weil es nur Wort hieß und nicht wunderbar, in einem Ei wuchs ein kratziger Bart, im nächsten ein verzauberter Kicherriese sowie ein Tanzfuß mit sechs Zehen und schließlich eine böse Zunge, die heiraten wollte.
    Damals hatte sie auch zum ersten Mal bemerkt, welche Fähigkeiten in ihrem Finger verborgen waren. Sie hatten ein Spiel daraus gemacht, bei dem Dorothea etwas behauptete und Rosa mittels ihres Fingers herausfinden musste, ob es wahr oder falsch war.
    Doch das war schon lange her. Ob Dorothea ihrem Sohn Kaspar wohl von ihr und ihrem Finger erzählt hatte? Rosa setzte sich wieder auf die Brüstung und öffnete das Medaillon, dann erst fiel ihr ein, dass der Rat ja die Locke ihres Neffen behalten hatte. Sie klappte es wieder zu.
    Schon oft hatte sie sich gefragt, wie ihr Neffe wohl aussah, und sie verwünschte Christian Balderius, den Mann ihrer Schwester, denn nur wegen ihm war Dorothea seit nunmehr neun Jahren in Masulipatnam, wo er im Auftrag der Ostindischen Kompanie eine Faktorei aufbauen sollte. Neun endlos lange Jahre! Rosa konnte sich kaum noch daran erinnern, wie Dorotheas Stimme geklungen hatte.
    Plötzlich legten bange Fragen einen engen Ring um Rosas Brust. Angenommen, sie würde es nach Indien schaffen – was wäre, wenn Dorothea ihr den Neffen gar nicht mitgeben wollte, oder noch viel schlimmer, wenn ihre Schwester bei der Geburt eines weiteren Kindes gestorben, ihr Schwager neu verheiratet war und er Kaspar nicht herausrücken würde? Der lachende Ratsherr tauchte wieder vor ihrem inneren Auge auf.
    Aber vielleicht, so beruhigte sie sich selbst, wollte ihre Schwester ja unbedingt, dass Kaspar in Nürnberg unter Christen aufwachsen sollte, und hatte bisher nur keine Vorstellung davon gehabt, wie er sicher nach Hause kommen konnte. Nach Hause. Der Nachtwächter rief die dritte Stunde aus. Sie musste zurück.
    Zu Hause angekommen, schlüpfte sie durch die Haustür in die Küche, sah nach der Glut im Herd und stieg hoch zu ihrer Schlafstatt, die sie mit Eva und Maria teilte. Sie schlüpfte aus ihren Kleidern und behielt nur noch ihr Hemd und den linken Handschuh an, der ihre missgestaltete Hand verbarg. Dann bettete sie sich auf den mit frischem Heu gefüllten Leinensack.
    Vom Lager ihrer Schwestern drang ein leises Stöhnen. Rosa setzte sich auf und sah zu ihnen hinüber. Das Stöhnen wurde stärker. Rosa stand auf und schlich zum Bett ihrer Schwestern. Das Stöhnen kam von Eva. Rosa fand, ihre Schwester sah aus wie eine Tote, so bleich, und mit den geschlossenen Augen wirkte ihr Gesicht eingefallen und das struppige Haar so, als wäre es von Mäusen angefressen.
    Rosa strich über Evas Stirn, sah nach Maria, die etwas fülliger war als Eva, was aber nichts anderes hieß, als dass zwischen ihren Knochen und der Haut wenigstens etwas Fleisch war. Beklommen tappte Rosa zurück zu ihrem Lager. Nicht auszudenken, was mit ihnen geschehen würde, wenn man sie aus dem Haus und auf die Straße treiben würde. Sie musste es einfach schaffen. Wenn das Blatt schlecht war, durfte man bluffen. Oder eine Karte aus dem Ärmel ziehen …
    Ein Lächeln zog über ihr Gesicht, als sie sich an die Zeit erinnerte, als ihr der Vater beigebracht hatte, wie man falschspielt. Natürlich hatte er nicht im Ernst daran gedacht, dass sie jemals mit Fremden spielen würde.
    Eine Karte aus dem Ärmel ziehen … Sie legte sich auf die Seite, bettete ihr Gesicht in den purpurnen Handschuh. Und auch über das Verlieren hatte ihr der Vater etwas beigebracht. Er hatte mit ihr immer wieder das Kartenwerk »Theatrum Orbis Terrarum« von Abraham Ortelius betrachtet und sie auf ein Zitat von
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