Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)

Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Hexe und der Leichendieb: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Helga Glaesener
Vom Netzwerk:
bewältigen können. Er erklomm die beiden eisglatten, gemauerten Stufen, die in das einzige Zimmer seines Hauses führten. Drinnen war es düster, was daran lag, dass er eine Schweinsblase über die Fensteröffnung gespannt hatte. Aber das machte nichts. Er hielt sich ja sowieso lieber im Freien auf.
    Zielsicher steuerte er auf die Nische neben seinem Bett zu, in der früher einmal eine Statue des heiligen Augustinus gestanden hatte und die jetzt als Abstellecke für allerlei Gerümpel diente. Als er nach dem Besenstiel griff, den er dort aufbewahrte, sauste fiepend eine Ratte an ihm vorbei. Dass Noah die Ahnen dieser Plagegeister nicht erschlagen hatte! Ambrosius zog den Stiel hervor, ohne viel Hoffnung, Noahs Versäumnis nachholen zu können.
    In diesem Moment, gerade als er sich seufzend umdrehen wollte, legte sich eine Hand auf seine Schulter. Der Griff war eisenhart, und Ambrosius erstarrte. Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, in das sich Angst mischte. Er konnte sich schon denken, wer in sein Haus geschlichen war.
    »Einen wunderschönen guten Morgen«, wünschte eine samtene, überaus höfliche Stimme – genau die, die zu hören er befürchtet hatte. Resigniert ließ er den Stiel fahren.
    »So setz dich doch«, empfahl die Stimme, und er nickte, zu erschrocken, um zu widersprechen. Mit wackligen Knien sank er auf den Schemel neben seinem Bett und sah zu, wie sein Besucher zum Fenster humpelte und die Schweinsblase von den Nägeln hob, um draußen das Gelände zu überprüfen. Ambrosius konnte im Sonnenlicht die Wunden im Gesicht des Mannes erkennen, die inzwischen verschorft und am Heilen waren. Auch sonst schien er mit seiner Gesundung erstaunliche Fortschritte gemacht zu haben. Er stand gerade, ohne sich abzustützen. Seine Hand lag auf dem Griff des Schwertes. Die linke natürlich. Die rechte hing nutzlos aus der Schlinge, in die der Arm gebettet war.
    Ein Krüppel, dachte Ambrosius. Und dennoch, und obwohl die Gestalt ärmliche, nicht besonders saubere Bauernkleider trug und eigentlich mehr einem Bettler ähnelte, ging von ihr eine Kraft und Eleganz aus, die sein Herz in Trab versetzte. O süßer Jesus, hilf mir! , stöhnte er, als sich unter seiner Sutane der Fluch seines Körpers rührte. Warum nur stellte Gott ihn mit einem solch beschämenden Begehren auf die Probe?
    Er verachtete sich selbst und konnte doch den Blick nicht von der gut gebauten Gestalt reißen. Die Waden in den grauen Wollstrümpfen waren muskulös, die Hüften schmal, der Körper biegsam, das Gesicht voller Witz und Schläue. Vor allem aber faszinierte ihn das Haar des Mannes, diese blonde Lockenpracht, die ihn aussehen ließ wie ein Kind der Sonne.
    Ambrosius schrak zusammen, als der Mann plötzlich auflachte. Es war ein Geräusch, das das Zimmer bis in die Ritzen der Hauswände füllte und Ambrosius auf den Boden der beunruhigenden Gegenwart zurückholte. »Kannst du dir denken, warum ich zurückgekommen bin?« Das Lächeln, mit dem der Mann ihn umfasste, hatte etwas ausgesprochen Unangenehmes.
    »Sei gesegnet, Marx, mein Sohn«, stotterte Ambrosius. »Die Seele ist ein kostbares Kleinod, und daher ist es nur natürlich und von Herzen zu begrüßen, wenn du sie der Fürsorge der heiligen Kirche …« Er verstummte unter dem neuerlichen Lachen des Mannes. Herr Jesus, dachte er entsetzt, der Kerl weiß alles.
    Hatte er nicht gleich gespürt, dass dieser Mensch, der in sein Leben gebrochen war wie die Sintflut über Israel, ihn in Schwierigkeiten bringen würde? Es war an einem trüben Wintertag geschehen. Er war in seinen Garten gestürmt, unter Mitnahme des Zauns und Zerstörung eines Nachttopfes, der neben dem Misthaufen der Entleerung harrte. Sein Pferd, ein furchterregender Schimmel, hatte ihn bis zur Tür des Pfarrhauses getragen, und dort war er aus dem Sattel gerutscht und im Schnee liegen geblieben.
    Ambrosius hatte ihn – aus Mitleid und Faszination, weil er trotz seiner Verletzungen wie ein Welpe immer wieder auf die Füße zu kommen suchte – in seine Hütte geschleppt. Das Pferd war ihnen gefolgt, als würde es sich mit einem Hund verwechseln. Es hatte misstrauisch zugesehen, wie der Mann in der schwarzen Sutane seinen Herrn aufs Bett hievte.
    Und dann … O heiliger Rochus – so viel Blut. Ambrosius hatte entsetzt die Striemen, die versengten Fladen an den Beinen, die amputierten Fingernägel und den gebrochenen Arm betrachtet. Das Unglück besaß ein solches Ausmaß, dass er fast aufgegeben hätte, ohne
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher