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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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sie sich zum Mittagsschläfchen hinlegte und ihr Herz aufhörte zu schlagen.
    Ich dachte: Lieber im Freien warten. Schlechtes Wetter kündigte sich an, es wurde recht kühl, die Blätter fielen raschelnd. Manchmal dachte ich an mein Leben, und manchmal dachte ich gar nicht. Von Zeit zu Zeit, wenn es dringend schien, nahm ich eine kurze Inspektion vor. Nein auf die Frage: Fühlst du deine Beine noch? Nein auf die Frage: Den Hintern? Ja auf die Frage: Schlägt dein Herz?
    Und doch.
    Ich war geduldig. Sicher gab es noch andere, auf anderen Parkbänken. Der Tod war beschäftigt. So viele, die versorgt werden wollten. Damit er nicht glaubte, ich schlüge blinden Alarm, zog ich die Karteikarte heraus, die ich in der Geldbörse bei mir trug, und steckte sie mir mit einer Sicherheitsnadel an die Jacke.

 
    Hundert Dinge können dein Leben verändern. Und ein paar Tage lang, zwischen der Zeit, als ich den Brief erhielt, und der Zeit, als ich denjenigen treffen ging, der ihn geschickt hatte, war alles möglich.

 
    Ein Polizist kam vorbei. Er las die Karte, die ich mir an die Brust geheftet hatte, und sah mich an. Ich dachte, er würde mir einen Spiegel unter die Nase halten, aber er fragte nur, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich sagte ja, was sollte ich sonst sagen? Ich habe mein ganzes Leben auf sie gewartet, sie war das Gegenteil des Todes – und jetzt warte ich hier noch immer?

 
    Endlich war Samstag. Das einzige Kleid, das ich besaß, hatte ich an der Klagemauer angehabt, und jetzt war es zu klein. Also zog ich einen Rock an und steckte den Brief in die Tasche. Dann ging ich los.

 
    Nun, da mein Leben fast vorbei ist, kann ich sagen, dass mich am stärksten beeindruckt hat, wie es sich verändern kann. An einem Tag ist man ein Mensch, und am nächsten Tag heißt es, man sei ein Hund. Zuerst ist das schwer zu ertragen, aber nach einer Weile lernt man, es nicht als ein Manko zu betrachten. Es kommt sogar ein Moment, in dem es berauschend wird, zu merken, wie wenig eigentlich für einen gleich zu bleiben braucht, damit man weitermacht im Bemühen um das, was in Ermangelung eines besseren Wortes Menschsein genannt wird.

 
    Ich kam aus der Subway und ging in Richtung Central Park, am Plaza Hotel vorbei. Es war schon Herbst, die Blätter wurden braun und fielen ab.
    Ich betrat den Park an der 59 th Street und nahm den Weg zum Zoo. Als ich am Eingang ankam, sank mir der Mut. Ungefähr fünfundzwanzig Bänke standen da in einer Reihe. Auf sieben saßen Leute.
    Wie sollte ich wissen, welcher er war?
    Ich ging die Reihe auf und ab. Keiner schenkte mir einen zweiten Blick. Schließlich setzte ich mich neben einen Mann. Er beachtete mich nicht.
    Meine Uhr zeigte 4   :   02. Vielleicht hatte er sich verspätet.

 
    Einmal hatte ich mich in einem Kartoffelkeller versteckt, als die SS kam. Der Eingang war unter einer dünnen Schicht Heu verborgen. Ihre Schritte kamen näher, ich hörte sie sprechen, als wären sie in meinen Ohren. Sie waren zu zweit. Der eine sagte: Meine Frau schläft mit einem anderen Mann , und der andere sagte: Woher weißt du das? , und der erste sagte: Ich weiß es nicht, ich vermute es nur, worauf der zweite sagte: Und warum vermutest du es?, während mir das Herz stillstand. Es ist nur so ein Gefühl , sagte der erste, und ich stellte mir die Kugel vor, die mir das Gehirn zerfetzen würde. Ich kann nicht mehr richtig denken , sagte er, und bin völlig appetitlos.

 
    Fünfzehn Minuten vergingen, dann zwanzig. Der Mann neben mir stand auf und ging. Eine Frau setzte sich hin und schlug ein Buch auf. Eine Bank weiter unten stand eine andere Frau auf. Zwei Bänke weiter unten saß eine Mutter neben einem alten Mann und schaukelte ihren Kinderwagen. Drei Bänke weiter unten lachte ein Paar und hielt Händchen. Dann sah ich sie aufstehen und gehen. Die Mutter stand auf und schob ihr Baby weg. Es blieben die Frau, der alte Mann und ich. Wieder vergingen zwanzig Minuten. Es wurde spät. Ich dachte, wer immer er sei, er würde nicht kommen. Die Frau klappte ihr Buch zu und ging. Der alte Mann und ich waren die Einzigen, die übrig blieben. Ich stand auf. Ich war enttäuscht. Ich weiß nicht, was ich mir erhofft hatte. Ich fing an zu gehen, an dem alten Mann vorbei. Eine Karte war mit einer Sicherheitsnadel an seine Brust geheftet. Darauf stand: ICH HEISSE LEO GURSKY ICH HABE KEINE FAMILIE BITTE DEN PINELAWN-FRIEDHOF VERSTÄNDIGEN ICH HABE EINE GRABSTELLE IM JÜDISCHEN TEIL VIELEN DANK FÜR IHRE
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