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Die Geier

Die Geier

Titel: Die Geier
Autoren: Joel Houssin
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Projekt in allergrößter Vor-
    sicht angehen und hoffen, daß schon alles gutgehen
    würde.
    In den ersten sechs Monaten nach der Inbetrieb-
    nahme ereigneten sich mehr tödliche Unfälle auf der
    Strecke zwischen dem Beginn des abschüssigen Teil-
    Stücks und der Kreuzung als auf den beiden miteinan-
    der verbundenen Umgehungsstraßen.
    David Tolands Appartement lag kaum fünfhundert
    Meter von diesem entscheidenden Sektor entfernt.
    Mitten im Tunnel, unter den orangefarbenen Bögen, de-
    ren Lichter wie aneinandergereihte Leuchttürme blink-
    ten, setzte der Schmerz ein. Der Mann fuhr mit seinem
    billigen Fiat auf der mittleren Fahrbahn. Das Wagenin-
    nere war viel zu eng für seinen mächtigen Körper. Wie
    an jedem Mittwochabend kam er aus Versailles zurück,
    wo seine beiden Kinder und deren Mutter seit kurzem
    lebten. Diese Trennung machte dem Mann schwer zu
    schaffen, und trotz zahlreicher Bemühungen war ihm
    nur ein einziger lausiger Besuchstag pro Woche gestat-
    tet worden. Eine richterliche Entscheidung, die ihm wie
    eine unerträgliche Ungerechtigkeit vorkam. Er hatte al-
    les getan, um seine Frau und seine Kinder glücklich zu
    machen. Sein Zuhause war sein ein und alles, sein ein-
    ziger Lebensinhalt, in den er seine ganze Kraft, seine
    ganze Energie investiert hatte. Innerhalb weniger Wo-
    chen hatte man ihm das alles weggenommen, und er
    wagte nicht einmal den Versuch, sich dagegen zu weh-
    ren.
    In der Nacht nach der Trennung hatten sich die ersten
    Symptome bemerkbar gemacht. Gegen drei Uhr nachts
    war er schweißgebadet und von einem nicht zu unter-
    drückenden Brechreiz gequält aufgewacht. Ein unend-
    lich schweres Gewicht lastete ihm auf der Brust. Bis
    zum frühen Morgen stand er über das Waschbecken ge-
    beugt und erbrach sich; zwischen den einzelnen
    Krämpfen starrte er immer wieder in den Spiegel. Sein
    Gesicht machte ihm angst. Die Haut war ganz grau ge-
    worden, und die bläulichen Schatten um die Augen ver-
    liehen dem hilflosen Blick einen noch beängstigenderen
    Ausdruck.
    Am nächsten Abend, nachdem er sich einen ganzen
    Tag lang ausgeruht hatte, erinnerte ihn nur noch ein
    leichter Druck auf der Brust an dieses Unwohlsein, das
    er ganz einfach seiner Verärgerung zuschrieb. Da er sich
    kaum sportlich betätigte, beunruhigte es ihn nicht son-
    derlich, daß ihm bei der geringsten körperlichen An-
    strengung sogleich der Atem ausging. Da er durch die
    Trennung von seinen Kindern wie vor den Kopf gesto-
    ßen und nun mit immer neuen Problemen des Jungge-
    sellendaseins konfrontiert war, versäumte er es, seinen
    Arzt aufzusuchen. Wahrscheinlich hätte er dann erfah-
    ren, daß er seinen ersten Herzinfarkt hinter sich hatte.
    Eine zweite Warnung erhielt er im Lauf des Mitt-
    wochnachmittags, als er mit seinen beiden Kindern im
    Schloßpark von Versailles spazierenging. Er wurde von
    einem plötzlichen Schwindel erfaßt und mußte sich an
    einer Säule abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu
    verlieren. Ein stechender Schmerz fuhr ihm in den lin-
    ken Arm und lähmte ihn bis in die Fingerspitzen. Er
    sah, wie die Kinder einem Ball nachliefen und wildes
    Indiandergeschrei ausstießen. Er verzog das Gesicht zu
    einer Fratze. Das Atmen fiel ihm schwer, und der
    Schmerz drang bis in den Unterleib vor.
    Seine kleine Tochter stellte sich vor ihn.
    »Was hast du, Papa? Bist du krank?«
    Er wußte, daß das Lächeln, zu dem er sich in diesem
    Moment zwang, alles andere als Zuversicht ausstrahlte.
    Er löste sich von der Säule und gab sich Mühe, nicht
    umzufallen. Das Kind sollte sich nicht ängstigen. Ein
    einziger Tag in der Woche, ein einziger kurzer und allzu
    oft mißlungener Tag. Das kleine Mädchen durfte ihn
    nicht als kranken Mann in Erinnerung behalten.
    Der Park kam ihm wie das Deck eines vom Sturm hin
    und her geworfenen Schiffes vor.
    »Es ist nichts. Mir ist ein wenig kalt.«
    Er spürte, daß er bald zerplatzen würde. Das kleine
    Mädchen rümpfte auf eine komische Art und Weise die
    Nase.
    »Du siehst so seltsam aus. Du mußt einen Schal tra-
    gen und Orangen essen.«
    Der Mann schüttelte den Kopf. Der Schmerz ließ
    nach. Der Mann glaubte, der Schmerz würde nachlas-
    sen. Aber vielleicht hatten die Schmerzen sich ganz ein-
    fach nur stabilisiert und aufgehört, sich in seinem Kör-
    per auszubreiten ... Dem Mann war klar, daß es sich
    nur um einen Aufschub handelte, um eine kurze Pause,
    die seine Krankheit ihm gönnte. Er mußte jetzt schnell-
    stens handeln.
    »Ruf
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