Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Titel: Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
Autoren: Frank Tenner
Vom Netzwerk:
den Ringkampf gewonnen, wenn er mit einer solchen Gegenwehr gerechnet hatte. Aber er war zu sehr davon überzeugt, dass der wimmernde und scheinbar schon halb ohnmächtige Mann auf dem Boden keinen Widerstand mehr leisten könne. Ein einziger kräftiger Ruck, das Genick wäre gebrochen und das Jenseits erreicht.
    Dass er derjenige sein würde, der den Weg ins Jenseits oder in die Hölle oder wohin auch immer, auf alle Fälle in die körperliche Leblosigkeit, antreten würde, lag fern seiner Vorstellungskraft. Ich war weder bewusstlos, noch hatte ich Schmerzen, die mich zum Wimmern brachten, es war alles nur ein wenig Schauspielerei, um den Hünen in Sicherheit zu wiegen. Im Gegenteil, mir war nicht zum Wimmern zumute, der Adrenalinstoß, der beim Gedanken an den nahen Tod und beim Ertönen der Musik durch meinen Körper gefahren war, brachte mich fast zum Fliegen. Als der Henker sich über mich beugte, packte ich ruckartig zu, riss ihn zu Boden und hatte meinen Oberkörper über ihn und den rechten Arm fest um seinen Hals. Es war nicht einmal Angst, die ich in seinen Augen lesen konnte. Nur grenzenloses Erstaunen. Natürlich wollte er sich nach der Überraschungssekunde sofort aus dem Griff befreien. Ich rechnete damit und drückte noch fester zu. Die Kraft, die auf ihn einwirkte, brachte ihn zum zweiten Mal völlig aus der Fassung. Er konnte nicht wissen, dass ich diesen Arm dreißig Jahre lang trainiert hatte. Manchmal ist man jahre- oder jahrzehntelang nach der Suche eines Sinnes von Entscheidungen, Handlungen oder Verhaltensweisen. Manchmal sucht man vergeblich und manchmal offenbart sich die Antwort in einem Bruchteil einer einzigen Sekunde. So erging es mir. Jetzt wurde mir das „warum“ solch scheinbar sinnloser Übungen klar. Es musste einfach sein, damit ich in diesem Augenblick meine Aufgabe erfüllen konnte. Einen Menschen zu töten. Nein, sagen wir besser einen Verbrecher, einen Massenmörder, einen Handlanger des Bösen. Viel zu viele Irrtümer und auch Rechtsstreitereien und auch überflüssige politische Diskurse resultieren aus der falschen Anwendung des Begriffes „Mensch“ auf solche Wesen, für die es kein passendes Vokabular gibt und die daher auch nicht unter die „Menschenrechte“ fallen. Als ich meinen Kopf schräg nach oben richtete, sah ich an der Domkuppel die rote Schrift auf goldenem Grund leuchten: „Selig sind die Friedfertigen“. Wer immer unser Schicksal lenkt, einen gewissen, wenngleich schwarzen Humor konnte man ihm kaum absprechen. Vielleicht ist es auch ein Trost, dass es selbst in den schlimmsten Lebenssituationen paradoxe, zum Lachen reizende Momente gibt. Lachen konnte ich in diesem Augenblick nicht, denn meine Luft wurde knapp. Ich sah die Kuppeldecke und das Mosaik in einem Schleier verschwinden und rote Ringe vor den Augen tanzen. Es ist eigenartig, was das Gehirn in solch Extremsituationen für Kapriolen schlägt. Hätte ich raten sollen, was in diesem Augenblick mental geschehen würde, hätte ich vermutet, die entscheidenden Stationen meines Lebens würden im Zeitraffertempo an meinem geistigen Auge vorbeilaufen. Oder ich würde ein weißes Licht sehen. Dem war nicht so. Ich sah eine Szene aus einem meiner Lieblingsfilme: „Der alte Mann und das Meer“, mit dem unvergleichlichen Spencer Tracy in der Hauptrolle, für die er den Oscar verdient gehabt hätte. Man beließ es leider bei einer Nominierung. Auch Hollywood ist voller Irrtümer und Fehlentscheidungen. Vor meinen Augen erschien die Szene, in der der alte Fischer sich an jüngere und bessere Tage erinnerte, an jene Nacht, in der er stundenlang in einer verqualmten Spelunke im Armdrücken gegen einen riesigen Farbigen kämpfte. Mein Kampf kam mir auch vor, als ob er sich über Stunden erstrecken würde, dabei werden wohl kaum mehr als sechzig Sekunden vergangen sein, seit dem Zeitpunkt, als ich den Hünen niederriss und begann, ihm die Kehle abzuschnüren. Ich hatte das Gefühl, ich könne es schaffen. Und genau dieses Gefühl muss Smiths Handlanger wohl auch gehabt haben. Das brach ihm letztlich und buchstäblich das Genick. Zuvor wurden seine Augen immer größer, ich konnte das Weiße deutlich sehen. Das Blut schien völlig aus seinem Gehirn, sofern er über ein solches verfügte, entwichen zu sein. Sein Körper wurde schlaff, dann drückte ich seinen Kopf mit letzter Kraftanstrengung nach hinten. Es gab ein knackendes Geräusch, das ich wohl nie vergessen werde. Trotzdem war ich nicht betroffen oder
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher