Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Furcht des Weisen / Band 1

Die Furcht des Weisen / Band 1

Titel: Die Furcht des Weisen / Band 1
Autoren: Patrick Rothfuss
Vom Netzwerk:
und nahm stattdessen eine bauchige, rote zur Hand. Auch von deren Inhalt kostete er, bewegte nachdenklich die befeuchteten Lippen aneinander, nickte und goss sich ein ordentliches Quantum ein.
    Dann deutete er auf die nächste Flasche und setzte seinen Singsang fort:
     
    Frau am Feuer.
    Mondgesicht.
    Fichte. Fenster.
    Kerzenlicht.
     
    Diesmal war es eine klare Flasche mit einer hellgelben Flüssigkeit darin. Bast zog den Korken heraus und kippte sich, ohne zu probieren, einen Schuss in den Krug. Dann stellte er die Flasche beiseite, schwenkte den Krug dramatisch und trank einen tiefen Schluck. Ein Strahlen zeigte sich auf seinem Gesicht, und er schnippte mit dem Finger an die Flasche und ließ sie hell erklingen, eh er seinen Singsang wieder aufnahm:
     
    |15|
Bierfass. Barfuß.
    Stein und Stock.
    Wind und Wasser –
     
    Eine Diele knarrte, und Bast hob den Blick und lächelte freudig. »Guten Morgen, Reshi.«
    Der rothaarige Wirt stand am Fuß der Treppe. Er strich sich mit den feingliedrigen Händen über die saubere Schürze und die langen Hemdsärmel. »Ist unser Gast schon wach?«
    Bast schüttelte den Kopf. »Hab keinen Mucks gehört.«
    »Er hat ein paar harte Tage hinter sich«, sagte Kote. »Das hat ihn jetzt wahrscheinlich eingeholt.« Er stutzte, hob den Kopf und schnupperte. »Hast du getrunken?« Die Frage klang eher neugierig als vorwurfsvoll.
    »Nein«, sagte Bast.
    Der Wirt hob eine Augenbraue.
    »Ich habe
probiert
«, sagte Bast. »Das Probieren geht dem Trinken voraus.«
    »Ah«, sagte der Wirt. »Dann hast du dich also bereit gemacht zu trinken?«
    »Aber ja«, sagte Bast. »Und zwar bis zum Exzess. Was gibt’s denn hier auch sonst zu tun?« Bast zog seinen Krug unterm Tresen hervor und sah hinein. »Ich hatte auf Holunder gehofft, aber das ist irgendeine Melonenart.« Er schwenkte den Krug und überlegte. »Und irgendwas Würziges.« Er trank noch einen Schluck und kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Zimt?«, fragte er und sah sich zu den Flaschenreihen um. »Haben wir überhaupt noch Holunder?«
    »Steht da irgendwo«, sagte der Wirt, ohne hinzublicken. »Warte mal kurz, und hör mir zu, Bast. Wir müssen reden. Über das, was du gestern Abend getan hast.«
    Bast erstarrte. »Was hab ich denn getan, Reshi?«
    »Du hast dieses Mael-Wesen aufgehalten«, sagte Kote.
    »Ach so, das.« Bast entspannte sich wieder und machte eine wegwerfende Geste. »Ich hab es nur ein wenig gebremst, Reshi. Weiter nichts.«
    |16| Kote schüttelte den Kopf. »Dir war klar: Das ist nicht nur irgendein Verrückter. Und du hast versucht, uns zu warnen. Wenn du nicht so schnell reagiert hättest …«
    Bast runzelte die Stirn. »Nicht schnell genug, Reshi. Es hat Shep erwischt.« Er blickte auf den gründlich geschrubbten Dielenboden vor dem Tresen. »Ich mochte Shep.«
    »Alle anderen werden glauben, dass uns der Schmiedelehrling gerettet hat«, sagte Kote. »Und das ist wahrscheinlich auch besser so. Ich aber weiß, wie es wirklich war. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte dieses Wesen alle hier niedergemetzelt.«
    »Ach, Reshi, das stimmt doch nicht«, sagte Bast. »Du hättest es auch im Handumdrehen erledigt. Ich bin dir nur zuvorgekommen.«
    Der Wirt tat die Bemerkung mit einem Achselzucken ab. »Der gestrige Abend hat mich nachdenklich gemacht«, sagte er. »Ich überlege, was wir tun könnten, um hier für ein bisschen mehr Sicherheit zu sorgen. Hast du mal ›
Die weißen Reiter
‹ gehört?«
    Bast lächelte. »Das war schon unser Lied, bevor es eures wurde, Reshi.« Er holte Luft und sang mit schöner Tenorstimme:
     
    Sie ritten Pferde wie Schnee so weiß,
    Die Schwerter und Bögen silbern wie Eis.
    Sie trugen frische Kränze ums Haupt
    Mit roten Beeren und grün belaubt.
     
    Mit roten Beeren und grün belaubt. Der Wirt nickte. »Genau an diese Strophe habe ich gedacht. Meinst du, du könntest dich darum kümmern, während ich hier alles vorbereite?«
    Bast nickte begeistert und stürmte förmlich hinaus, hielt nur an der Küchentür noch einmal inne. »Ihr fangt aber nicht ohne mich an, ja?«, fragte er besorgt.
    »Wir fangen an, sobald unser Gast gefrühstückt hat und bereit ist«, sagte Kote. Als er den Ausdruck auf dem Gesicht seines Schülers sah, ließ er sich ein wenig erweichen. »Du hast also noch ein oder zwei Stunden Zeit, nehme ich an.«
    Bast blickte zur Tür hinaus und sah sich dann noch einmal um.
    |17| Belustigung huschte über das Gesicht des Wirts. »Und ich werd dich rufen, bevor
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher