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Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Joël Tan
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als einleitende Worte seines Testaments gewählt.
    Im stillen Gedenken hielten alle Anwesenden die Häupter gesenkt, während einer der beiden Testamentsvollstrecker das Pergament mit lauter Stimme verlas.
    Auf die Invocation folgte die Arenga, die mit den Worten »mors certa hora incerta« deutlich machte, dass der Tod zwar stets gewiss, die Stunde des Todes aber ungewiss ist.
    Ein unterdrücktes Husten eines ältlichen Anwesenden übertönte fast gänzlich die Intitulation, in der der Verstorbene seinen Stand und Namen aufführte, doch zur Narration – der Erörterung der Gründe des aufgesetzten Testaments – war es wieder still im Saal.
    Neben allen Mitgliedern des sitzenden und des alten Rates waren noch die beiden Testamentsvollstrecker, ein Geistlicher aus der Pfarrei St. Georg und einer aus dem Kirchspiel Eppendorf, die beiden Zeugen Ecbert von Harn und Bertram Schele sowie die beiden Söhne des Verstorbenen, Conrad und Albert von Holdenstede, anwesend.
    Wie gewohnt hatte die Herrin des Hauses am frühen Morgen nach den beiden Beginen-Schwestern schicken lassen, die seit Tagen die Krankenpflege ihres Gemahls übernahmen. Sie selbst war daraufhin aus dem Haus gegangen, um im Dom am Heiligenaltar von St. Josef, dem Patron der Sterbenden, für eine gute Sterbestunde ihres Mannes zu bitten. Nichts hatte zu jenem Zeitpunkt darauf hingewiesen, dass der Graue dem Tod bereits so nahe war.
    Völlig unerwartet hatte sein Körper sich kurze Zeit später aufgebäumt und unter unmenschlichen Lauten aus allen Öffnungen entleert. Seither kam er der Schwelle zum Reich der Toten mit jedem Augenblick näher.
    Als die zurückgelassene Begine schon dachte, bald von den Geräuschen des Sterbenden verrückt zu werden, traten endlich zwei teuer gewandete Männer ein, dicht gefolgt von der zweiten Begine.
    »Ich habe leider nur einen der Söhne gefunden«, flüsterte sie ihrer Mitschwester zu, die mehr als dankbar über ihre sehnsuchtsvoll erwartete Rückkehr war. Auf die Nachfrage, wer denn dann der andere Mann sei, antwortete sie nur mit einem Achselzucken.
    Gleich darauf besannen sie sich wieder ihrer eigentlichen Aufgabe und griffen pflichtbewusst zu Wasser und Laken, um den Besudelten zu reinigen. Auch wenn diese Arbeit große Aufmerksamkeit erforderte, warf die ältere der Schwestern dabei dennoch heimlich verstohlene Blicke zu den merkwürdigen Männern.
    Der Verstorbene hatte von seinem Recht Gebrauch gemacht, den Inhalt seines Testaments bis nach seinem Tode geheim zu halten. Dazu war es nur nötig gewesen, das Pergament in Anwesenheit seiner Zeugen als das Genannte zu bezeichnen und die Zeugen noch am selben Tag darauf unterzeichnen zu lassen. So geschehen, hatte der Erblasser die doppelte Ausführung des Testaments wieder an sich genommen, um sie bis zum Tage seines Todes sicher zu verwahren.
    Beide Urkunden hatten das Kaufmannshaus erst nach dem Dahinscheiden Conradus’ verlassen und lagen heute den Herren im Rathaus vor. Während eine Niederschrift in den Händen des lesenden Testamentsvollstreckers ruhte, wurde der Text der anderen Ausführung von einem der Zeugen mit dem Vorgetragenen verglichen.
    Es herrschte eine unangenehme Anspannung zwischen den Anwesenden, und es gab wohl niemanden, der die beiden Söhne des Verstorbenen um diese Situation beneidete. Hielt ein Mann den Inhalt seines Testaments geheim, wurde der Akt der Güterverteilung zu einer nervenaufreibenden Zerreißprobe, die nicht selten unangenehme Überraschungen bereithielt. Zudem war allseits bekannt, dass die Söhne des Toten einander verachteten. Ein jeder war gespannt darauf, wie der kluge Conradus von Holdenstede diese Krux zu lösen versucht hatte.
    Endlich war der uninteressante Formalienteil der Testamentsverlesung vorüber, dachte der ältere der beiden Brüder gereizt. Viel zu lange schon hatte er auf diesen Tag gewartet, doch jetzt war er gekommen. Heute würde er den Lohn seiner Anstrengungen erhalten, und er würde ihn mit offenen Armen empfangen. Fast unmerklich schaute er zu dem Mann hinüber, mit dem er noch vor wenigen Tagen auf teuflische Weise paktiert hatte. Dieser schien die Gedanken seines Gegenübers lesen zu können, denn auch er blickte auf und deutete ein leichtes Kopfnicken an.
    »Kommen wir nun zum Dispositio, meine Herren«, waren die magischen Worte, die auch das Blut all jener Ratsherren wieder in Wallung brachte, deren Lider mittlerweile schwer geworden waren. Schließlich konnte die Vergabe der Besitztümer jeden
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