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Die Flüchtende

Die Flüchtende

Titel: Die Flüchtende
Autoren: Karin Alvtegen
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Herrn Hjelm verwirren.
    Sie ging so schnell wie möglich. Auf dem Etikett des Schlafsacks stand, dass er bis zu fünfzehn Grad minus tauge, seit dem Nickerchen fröstelte sie aber trotzdem. Sie wünschte, sie hätte ein paar Paracetamol für ihren Hals. Vielleicht sollte sie zur Stadtmission gehen und um Tabletten bitten?
    Sie war schon fast bei der Tankstelle, als es wieder zu regnen anfing. Es war mühsam, nasse Klamotten trocken zu kriegen, und das letzte Stück bis unters Dach legte sie im Laufschritt zurück. Sie wünschte, sie hätte für den Rückweg einen Regenschirm gehabt. Die Stadtmission musste bei diesem Wetter eben warten.
    Neben den Türen der Tankstelle hingen die Nachmittagszeitungen aus, und sie warf im Vorbeigehen einen Blick darauf. Einer der Schlagzeilenaushänge war gelb und bestand aus neun Wörtern, die auf zwei Zeilen verteilt waren. Sie blieb stehen.
    Das Opfer des bestialischen Mordes. Polizei sucht mysteriöse Frau.
    Unter der Schlagzeile war ein Bild, und es bestand kein Zweifel, wen es darstellte.
    Es war Jörgen Grundberg.
    Musst du gerade jetzt damit anfangen?», fragte Beatrice Forsenström. «Zieh lieber dein Kleid an.» Sibylla saß in Unterwäsche auf dem Bett. Sie hatte sich ein Herz gefasst und die Gelegenheit mit Sorgfalt gewählt. Sollte es je einen Moment geben, in dem ihre Mutter möglicherweise nachgeben würde, dann unmittelbar bevor sie sich zur alljährlichen Weihnachtsfeier aufmachten. Da war sie immer guter Laune. Erwartungsvoll und aufgedreht rauschte sie durchs Haus, damit alle perfekt würden. Es war eine der Gelegenheiten im Jahr, da sie ihren Status wirklich herzeigen und genießen konnte, und das war in dem kleinen Hultaryd nicht immer so leicht.
    « Bitte, Mama, darf ich nicht doch bei dem Verkauf mitmachen? Wenigstens an einem Tag.» Sie legte den Kopf schräg, um besonders flehentlich auszusehen. Vielleicht würde es ihre Mutter dazu bewegen, in diesem erwartungsfrohen Moment Gnade vor Recht ergehen zu lassen und ihren Wunsch zu erhören.
    «Zieh die schwarzen Schuhe an», erwiderte sie und ging zur Tür.
    Sibylla schluckte. Sie musste es noch einmal versuchen.
    «Liebe ...?»
    Beatrice Forsenström blieb auf dem Weg zur Tür stehen und drehte sich um. Sie hatte die Stirn gerunzelt und sah ihre Tochter an.
    «Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Meine Tochter hat es nicht nötig, herumzurennen und zu betteln, um an einer Klassenfahrt teilnehmen zu können. Falls du an dieser Klassenfahrt überhaupt teilnehmen möchtest, dann bezahlen ich und Vater für dich. Und da finde ich wahrlich, dass du lieber ein wenig Dankbarkeit zeigen solltest, statt ausgerechnet dann einen Auftritt zu inszenieren, wenn wir uns auf den Weg zu Vaters Weihnachtsfeier machen wollen.»
    Sibylla blickte zu Boden und ihre Mutter verließ das Zimmer.
    Das bedeutete, dass die Diskussion beendet war. Ein für alle Mal. Als ob es je eine gegeben hätte. Dass sie die Entscheidung ihrer Mutter überhaupt in Frage gestellt hatte, war schon reichlich aufmüpfig gewesen und sie wusste, dass sie dafür im Laufe des Abends noch würde büßen müssen. Jetzt hatte sie es geschafft, ihrer Mutter die gute Laune zu verderben, und das tat man nicht ungestraft.
    Das verhieß nichts Gutes. Es war schon schlimm genug, so wie es war.
    Die alljährliche Weihnachtsfeier bei Forsenströms Metall & Schmiede war ein Ereignis, das von Sibylla ebenso heiß ersehnt wurde wie eine bevorstehende Wurzelbehandlung. Es war die Gelegenheit für Direktor Forsenström und seine Frau, ihre Güte zu zeigen, indem sie für das Personal und dessen Familien eine Feier ausrichteten. Dass Sibylla dabei sein würde, war selbstverständlich, und ebenso selbstverständlich hatte sie einen Platz an der Ehrentafel auf dem kleinen Podest im Versammlungssaal der Gemeinde. Dort durften keine Kinder sitzen, außer ihr natürlich.

Alle anderen Kinder und Jugendlichen hatten einen eigenen Tisch - und bei den Weihnachtsfeiern war der Abstand zwischen ihnen und ihr größer denn je.
    Das Kleid lag wie ein Hohn auf dem Bett. Ihre Großmutter hatte es in irgendeinem feinen Geschäft in Stockholm gekauft, und darum zu bitten, es zu der Weihnachtsfeier nicht anziehen zu müssen, war Sibylla gar nicht erst in den Sinn gekommen. Dass sie zwölf war und alle anderen Mädchen Jeans und Fruit-of-the- Loom-Pullis mit V-Ausschnitt tragen würden, darauf konnte man nun wirklich keine Rücksicht nehmen. Sie würde neben ihren Eltern dort auf ihrem
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