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Die Flammen der Dämmerung: Roman (German Edition)

Die Flammen der Dämmerung: Roman (German Edition)

Titel: Die Flammen der Dämmerung: Roman (German Edition)
Autoren: Peter V. Brett
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Als Mädchen würde sie in den dama’ting -Pavillon hineingehen, aber wenn sie ihn wieder verließ, galt sie als junge Frau, und nur ihrem zukünftigen Ehemann war es erlaubt, ihre Haare zu betrachten. Die gelbbraune Kleidung würde man ihr wegnehmen und durch geziemende schwarze Gewänder ersetzen.
    »Es mag zwar Tagundnachtgleiche sein, aber der Mond ist voll«, sagte Manvah. »Das ist zumindest ein gutes Omen.«
    »Vielleicht holt mich ein Damaji in seinen Harem«, sinnierte Inevera. »Ich könnte in einem Palast leben, und meine Aussteuer wäre so groß, dass du nie wieder als Flechterin zu arbeiten bräuchtest.«
    »Du kämst nie wieder ins Sonnenlicht hinaus«, murmelte Manvah so leise, dass die Umstehenden es nicht hören konnten, »könntest außer mit deinen Schwestergemahlinnen mit niemandem sprechen und müsstest einem Mann Vergnügen bereiten, der dem Alter nach dein Urgroßvater sein könnte.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenigstens sind unsere Steuern bezahlt, und du hast zwei Männer als Fürsprecher, deshalb besteht kaum ein Risiko, dass du in den großen Harem verkauft wirst. Und selbst das wäre ein viel besseres Schicksal als für unfruchtbar erklärt und als nie’ting verstoßen zu werden.«
    Nie’ting . Inevera schüttelte sich bei dem Gedanken. Mädchen, die sich als unfruchtbar erwiesen, wurde die schwarze Tracht verweigert, sie mussten für den Rest ihres Lebens gelbbraune Sachen tragen und durften ihr Gesicht ob ihrer Schande nicht verdecken.
    »Vielleicht werde ich auserwählt, eine dama’ting zu sein«, spann Inevera weiter.
    Manvah schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht. Sie wählen niemals eine aus.«
    »Großmutter sagt, in dem Jahr, als sie geprüft wurde, hätte man ein Mädchen erwählt.«
    »Das war vor mindestens fünfzig Jahren«, entgegnete Manvah, »und die verehrte Mutter deines Vaters, möge Everam sie segnen, neigt zur … Übertreibung.«
    »Woher kommen dann all die nie’dama’ting ?«, wunderte sich Inevera, auf die sich in ihrer Ausbildung befindlichen dama’ting anspielend, die ihre Gesichter nicht bedeckten, sich aber zum Zeichen ihres Verlöbnisses mit Everam in Weiß kleideten.
    »Manche sagen, Everam selbst schwängert seine Bräute, und die nie’dama’ting seien seine Töchter«, antwortete Manvah. Inevera sah sie an und lupfte eine Augenbraue, als frage sie sich, ob ihre Mutter einen Scherz mache.
    Manvah zuckte die Achseln. »Diese Erklärung ist genauso gut wie jede andere. Ich versichere dir, dass keine der Mütter auf dem Markt je erlebt hat, dass ein Mädchen auserwählt wurde, noch haben sie ein Gesicht wiedererkannt.«
    »Mutter! Schwester!«
    Ein strahlendes Lächeln erhellte Ineveras Züge, als sie Soli näher kommen sah, gefolgt von Cashiv. Die schwarze Tracht ihres Bruders war noch staubig vom Kampf im Labyrinth, und sein Schild, den er über eine Schulter geschlungen hatte, wies frische Dellen auf. Cashiv war so makellos und adrett wie immer.
    Inevera rannte zu Soli und umarmte ihn. Lachend hob er sie mit einer Hand hoch und schwenkte sie durch die Luft. Inevera kreischte vor Vergnügen, ohne sich auch nur einen Augenblick lang zu fürchten. Nichts konnte sie ängstigen, wenn Soli in ihrer Nähe war. Sanft wie eine Feder setzte er sie wieder ab und ging dann zu ihrer Mutter, um sie zu umarmen.
    »Was tust du hier?« fragte Manvah. »Ich dachte, du seist schon unterwegs zu dama Badens Palast.«
    »Das bin ich auch«, erwiderte Soli, »aber ich konnte doch meine Schwester nicht zu ihrem Hannu Pash gehen lassen, ohne ihr Alas Segen zu wünschen.« Liebevoll zerstrubbelte er Ineveras Haar. Sie schlug nach seiner Hand, doch wie immer war er schneller und zog sie rechtzeitig zurück.
    »Denkst du, Vater wird auch noch kommen, um mich zu segnen?«, fragte Inevera.
    »Ah …« Soli zögerte. »Soviel ich weiß, schläft Vater immer noch hinten im Stand. Letzte Nacht schaffte er es nicht mal, zum Appell anzutreten, und ich sagte dem Exerziermeister, er litte an einem Bauchfieber … wieder einmal.« In einer hilflosen Geste zuckte Soli mit den Schultern, und Inevera senkte den Blick, weil er ihr die Enttäuschung nicht anmerken sollte.
    Soli bückte sich und hob mit einem Finger behutsam ihr Kinn, damit sie einander in die Augen sehen konnten. »Ich weiß, dass Vater dir nur das Allerbeste wünscht, genau wie ich, er kann es nur nicht so zeigen.«
    Inevera nickte. »Ich weiß.« Ein letztes Mal schlang sie die Arme um Solis Nacken, bevor er ging.
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