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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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etwas Unerwartetes, Furchtbares. Der kleine Schreiber mit dem Kahlkopf, Theophilo, hängt sich plötzlich an seinen Nachbar, den Schmied aus der Gasse vicolo S ma Trinità. Er taumelt und seine Augen verdrehen sich auf eine seltsame Art. Und zugleich beginnt in der dritten Reihe ein Knabe zu schwanken und hinter ihm schreit eine Frau, eine Schwangere, auf, schreit, schreit, und alle kennen diesen Schrei und jagen auseinander, wahnsinnig vor Angst. Der Schmied, ein großer starker Mann, zittert und schüttelt den Arm, an dem der Schreiber gehangen hat, als wollte er ihn von sich schleudern, schüttelt und schüttelt.
    Und drinnen im Hause kommt Gita, die auf dem Bette liegt, noch einmal zu sich und horcht.
    »Sie sind fort«, sagt der Fremde, der über sie gebeugt ist. Sie kann ihn nicht mehr sehen, aber sie tastet leise über sein gesenktes Gesicht, um doch noch einmal zu wissen, wie es war. Ihr ist, als hätten sie lange zusammen gelebt, der Fremde und sie, Jahre und Jahre.
    Und plötzlich sagt sie: »Die Zeit macht es nicht, nicht wahr?«
    »Nein,« sagt er, »Gita, die Zeit macht es nicht.« Und er weiß, was sie meint. So stirbt sie.
    Und er gräbt ihr ein Grab am Ende des Mittelweges, in dem reinen glänzenden Kies. Und der Mond kommt und es ist, als ob er in Silber grübe. Und er legt sie hinein auf Blumen und deckt sie mit Blumen zu. »Du Liebe«, sagt er und steht eine Weile still. Aber gleich darauf, als hätte er Angst vor dem Stillestehen und vor dem Nachdenken, beginnt er zu arbeiten. Sieben Särge stehen noch unbeerdigt; man hat sie im Laufe des letzten Tages heraus gebracht. Ohne viel Gefolge, obwohl in dem einen, besonders breiten Eichensarg Gian-Battista Vignola liegt, der Podestà.
    Alles ist anders geworden. Würden gelten nicht mehr. Statt eines Toten mit vielen Lebenden, kommt jetzt immer ein Lebender und bringt auf seinem Karren drei, vier Särge mit. Der rote Pippo, der das zu seinem Geschäft gemacht hat. Und der Fremde mißt, wie viel Raum er noch hat. Raum für etwa fünfzehn Gräber. Und so beginnt er seine Arbeit, und zuerst ist sein Spaten die einzige Stimme in der Nacht. Bis man wieder das Sterben hört aus der Stadt. Denn jetzt hält sich keiner mehr zurück; es ist kein Geheimnis mehr. Wen die Krankheit packt oder auch nur die Angst davor, der schreit und schreit und schreit, bis es zu Ende ist. Mütter fürchten sich vor ihren Kindern, keiner erkennt mehr den anderen, wie in ungeheurer Dunkelheit. Einzelne Verzweifelte halten Gelage und werfen die trunkenen Dirnen, wenn sie zu taumeln beginnen, aus den Fenstern hinaus, in Angst, die Krankheit könnte sie ergriffen haben.
    Aber der Fremde draußen gräbt ruhig fort. Er hat das Gefühl: so lang er Herr ist hier, in diesen vier Hecken, so lang er hier ordnen kann und bauen, und wenigstens außen, wenigstens durch Blumen und Beete, diesem wahnwitzigen Zufall einen Sinn geben und ihn mit dem Land ringsherum versöhnen und in Einklang bringen kann, so lange hat der andere nicht Recht, und es kann ein Tag kommen, wo er der andere müd wird, nachgibt. Und zwei Gräber sind schon fertig. Aber da kommt es: Lachen, Stimmen, und ein Wagen knarrt. Der Wagen ist über und über mit Leichen beladen. Und der rote Pippo hat Genossen gefunden, die ihm helfen. Und sie greifen blind und gierig hinein in den Überfluß und zerren einen heraus, der sich zu wehren scheint, und schleudern ihn über die Hecke auf den Kirchhof. Und wieder einen. Der Fremde schafft ruhig weiter. Bis ihm der Körper eines jungen Mädchens, nackt und blutig, mit mißhandeltem Haar, vor die Füße fällt. Da droht der Totengräber hinaus in die Nacht. Und er will wieder an seine Arbeit gehen. Aber die trunkenen Bursche sind nicht aufgelegt, sich befehlen zu lassen. Immer wieder taucht der rote Pippo auf, hebt die flache Stirne und wirft einen Körper über die Hecke. So stauen sich die Leichen um den ruhigen Arbeiter auf. Leichen, Leichen, Leichen. Schwerer und schwerer geht der Spaten. Die Hände der Toten selbst scheinen sich wehrend darauf zu legen. Da hält der Fremde an. Auf seiner Stirne steht Schweiß. In seiner Brust ringt etwas. Dann tritt er näher an die Hecke heran, und als wieder Pippos roter, runder Kopf sich hebt, schwingt er mit weitem Ausholen den Spaten, fühlt wie er trifft und sieht noch, daß er schwarz und naß ist, wie er ihn zurückzieht. Er wirft ihn in weitem Bogen fort, und senkt die Stirn. Und so geht er langsam aus seinem Garten, in die Nacht: ein
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