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Die dritte Todsuende

Die dritte Todsuende

Titel: Die dritte Todsuende
Autoren: Lawrence Sanders
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weder an seinem Auftreten noch an seiner Artikulation, denn er bewegte sich sicher, wenn auch langsam, und seine Worte waren niemals undeutlich. Aber selbst am Morgen strömte er einen schwachen, doch deutlich wahrnehmbaren Geruch aus: sauer, durchdringend, muffig. Pinckney war nie offensichtlich betrunken, aber immer wieder hörte Zoe, wie die Schublade seines Schreibtisches aufgezogen wurde, wie ein Flaschenhals gegen Glas klirrte, wie die Schublade wieder geschlossen wurde: eine stetige, unaufhörliche Kette von Geräuschen, die ihn durch den Tag brachte, so daß er funktionieren und der Welt mit Gleichmut und Charme gegenübertreten konnte.
    Und charmant war er, mit seinem schiefen Lächeln, seiner endlosen Geduld und seinem anscheinend grenzenlosen Mitgefühl. Stets war er unverändert freundlich, verbindlich und bereit, auch dem größten Dummkopf gegenüber Langmut zu beweisen. Zoe hatte Gerüchte von einer bettlägerigen Frau und einem mißratenen Sohn gehört, aber sie hatte nie gefragt, und Pinckney lieferte von sich aus keine Informationen über sein Leben außerhalb des Hotels.
    Er stellte auch selber keine Fragen nach Zoes Privatleben. Beide respektierten den Kummer des anderen. Das brachte sie einander näher als alle Beichten und Geständnisse.
    »Sergeant Coe hat mich gestern abend angerufen«, erzählte Pinckney. »Zu Hause. Seine Frau ist schwanger.«
    »Schon wieder?« fragte Zoe.
    »Schon wieder«, sagte er lächelnd. »Deswegen möchte er natürlich soviel Arbeit wie möglich haben. Stellen Sie heute den Dienstplan für die nächste Woche auf?«
    Sie nickte.
    »Können Sie ihn einsetzen?«
    So war Everett Pinckney. Er befahl ihr nicht, Arbeit für Sergeant Coe zu finden, obwohl das sein gutes Recht gewesen wäre.
    »Könnte er für Joe Levine einspringen?« fragte sie.
    »Das könnte er bestimmt.«
    »Ich kläre das mit ihm, bevor ich Ihnen den Plan zeige.«
    »Gut. Danke, Zoe.«
    Pinckney erklärte, daß er sich mal am Empfang umsehen wolle und danach die Schlösser an den Türen zum Dach inspizieren würde.
    »Bin ungefähr in einer Stunde zurück«, sagte er.
    Sie nickte.
    Er rutschte vom Schreibtisch und blieb noch einen Moment abwartend stehen, ohne den Raum zu verlassen. Sie blickte fragend auf.
    »Zoe…«, sagte er.
    Sie wartete.
    »Sind Sie in Ordnung?« fragte er besorgt. »Sie sind nicht krank? Sie wirken etwas… äh, erschöpft.«
    Seine Besorgnis rührte sie.
    »Es geht mir gut, Mr. Pinckney«, sagte sie. »Es sind nur wieder einmal die bewußten Tage.«
    »Ach so, das«, sagte er erleichtert. Dann fügte er mit einem heiser bellenden Lachen hinzu: »Tja, dafür muß ich mich jeden Morgen rasieren.«
    Er lächelte und war verschwunden.
    Ja, er rasierte sich jeden Morgen. Aber vom Rasieren bekam man keine Schmerzen und Krämpfe, hätte sie ihm sagen sollen. Man sah keine dunklen, klebrigen Flecken.
    Je länger sie lebte, desto vulgärer erschien ihr das Leben. Nicht die Gesellschaft oder die Kultur, sondern das Leben selbst. Tierisch. Roh. Ekelerregend. Das waren die Worte, die sie benutzte.
    Sie arbeitete langsam, stetig, den ganzen Vormittag hindurch, den Kopf über den Schreibtisch gesenkt, eine schweigende Sklavin. Als Everett Pinckney von seiner Inspektionstour zurückkehrte, blickte sie nicht auf. Sie konnte ihn in seinem Büro hören: Schreibtischschublade auf, das Klirren von Glas, das Zurückschieben der Schreibtischschublade.
    Ihre Tätigkeit langweilte sie nicht. Um sich zu langweilen, hätte sie sich ihrer Arbeit bewußt sein müssen. Aber sie funktionierte rein mechanisch, Hände, Augen und ein kleiner Teil ihres Gehirns, gerade genug für ihre Arbeit. Der Rest von ihr trieb losgelöst dahin.
    Um 12 Uhr 30 nahm sie ihr schwarzlackiertes Tablett und ging in die Küche. Einer der Köche bereitete ihr einen Thunfischsalat mit Lattich, Tomaten- und Gurkenscheiben, dazu einen einzelnen, großen Rettich, der so geschnitten war, daß er einer Blume ähnelte. Sie trug das Essen und eine Kanne heißen Tee zurück in ihr Büro.
    Sie aß ihren Lunch und saß dabei steif auf ihrem Stenotypistinnenstuhl, ohne mit dem Rückgrat die Lehne zu berühren. Die Krämpfe verstärkten sich. Sie schienen sich genau über dem Kreuzbein zu konzentrieren, wie eine Sonne, die ihre Strahlen aussandte.
    Als sie mit dem Essen fertig war, nahm sie ein Midol, eine Vitamin-C-Tablette und zwei Anazin zu ihrem Tee. Dann betupfte sie ihre Lippen mit der Leinenserviette und trug das benutzte Geschirr in die
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