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Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Titel: Die Deutsche - Angela Merkel und wir
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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entspricht ein Aufenthalt in Begleitung von BKA-Beamten und mit stetem Draht ins Kanzleramt nicht der Vorstellung, die sich ein Normalbürger von seinen Ferien macht. An diesem Punkt endet zwangsläufig die Normalität einer Kanzlerin, auch wenn sich die Amtsinhaberin noch so sehr darum bemühen mag.
    Spätestens mit der ersten Frau im Kanzleramt hat manauch in Deutschland gelernt, wie man mit Essen oder dem Reden darüber Politik machen kann. »Als wir im Herbst 2008 das Bankenrettungspaket geschnürt hatten«, verriet Angela Merkel später absichtsvoll, »da habe ich in meinem Büro einen Teller Linsensuppe gegessen.« Der politische Hintersinn dieses Verweises lässt sich mit Hilfe eines Buches entschlüsseln, das vor einigen Jahren in Italien erschienen ist. Es trägt den Titel Abgeordnete zu Tisch und enthält Interviews mit italienischen Politikern. Die wichtigste Frage an jeden von ihnen lautete: Gibt es so etwas wie linkes oder rechtes Essen?
    Geht es nach dem langjährigen italienischen Kommunistenchef Fausto Bertinotti, müssten sich die Konservativen in Merkels Partei große Sorgen machen. »Alle Gerichte mit intensivem Geschmack, mit einer engen Verbindung zur Region sind links«, antwortete Bertinotti. »Heute, mit der kulturellen Verfeinerung, hat die Küche der kleinen Leute über die feine Küche gesiegt. Es ist der Sieg der Armen über die Reichen.« Das Essen, das in dem Buch am häufigsten »links« genannt wird, ist Pasta all’Amatriciana, Nudeln mit einer Soße aus Speck und Zwiebeln. Es ist so etwas wie die italienische Linsensuppe, ein karges Essen aus der einfachen Küche, bei dem es auf die Zutaten ankommt. Der Speck zum Beispiel muss aus der Schweinebacke kommen, das ist wichtig. Bauchspeck wäre falsch.
    Es hat sich viel verändert, seit Helmut Kohl 1982 Kanzler wurde. Seine Vorliebe für gefüllten Saumagen galt damals als Ausdruck konservativer Verstocktheit. Wer progressiv und weltläufig wirken wollte, zog italienische Küche und Pinot Grigio einem Saumagen und PfälzerRiesling vor. Der im Mai 2013 verstorbene Römer Giulio Andreotti, diabolischer Strippenzieher der italienischen Nachkriegspolitik, war ein älterer Generationsgenosse Kohls. Er ordnete die Küche seiner traditionsreichen Heimatstadt noch politischen Lagern zu: Innereien nach rechts, Ochsenschwanz nach links. Das war das alte Lagerdenken vor dem Aufkommen der grünen Slow-Food-Bewegung. Heute haben sich Ochsenschwanz und Innereien gegen McDonald’s und Bocuse zusammengetan, das Bodenständige gegen das globalisierte Einerlei, die Neobürgerlichen gegen die Neoliberalen.
    Im Ausland mag diese Bodenständigkeit zu Missverständnissen führen. Pariser Korrespondenten erzählen gern die Anekdote von Merkel und den Radieschen. Nach einem exquisiten Staatsbankett gab die Kanzlerin ein Hintergrundgespräch für Journalisten. Auf dem Tisch standen rohe Radieschen. Merkel griff sich eines davon – und biss zum Entsetzen der französischen Medienvertreter hinein, als hätte sie nicht soeben Gänsestopfleber, Jakobsmuscheln oder Vergleichbares genossen. Vermutlich ist das weniger ein Zeichen von Kulturlosigkeit als eine Strategie der Stressbewältigung. Sie kann bei solchen Gelegenheiten selten den bereitgestellten Knabbereien widerstehen und ist nicht die einzige Vertreterin des politischen Spitzenpersonals, deren Konturen sich »unter dem Gewicht der Aufgabe gerundet haben«, wie es ein französischer Merkel-Biograf formulierte. Bei den Wählern, die mit dem gleichen Problem zu kämpfen haben, macht es sie nur populärer.
    Merkel gehört zu jenen Spitzenpolitikern, bei denenman im persönlichen Gespräch die Respektsperson vergessen kann. Nicht dass man sich gehen lassen könnte, hellwach und schlagfertig legt sie Schwächen in Journalistenfragen offen. Aber das machtpolitische Gehabe geht ihr völlig ab, wenn sie in der engen Flugzeugkabine auf dem Weg zu internationalen Gipfeltreffen in berlin-brandenburgischer Stimmfärbung die Weltlage erörtert, den Pappbecher mit dem Filterkaffee in der Hand, die legere Flugzeugbekleidung am Leib: eine schwarze oder dunkelblaue Strickjacke, schwarze Hose, bequeme schwarze Wildlederschuhe. Es kann passieren, dass man als Reporter gedankenverloren auf das kleine Stück nacktes Bein schaut, das über der heruntergerutschten Socke herausschaut – und dass die Kanzlerin diese, als sie den Blick bemerkt, fast peinlich berührt nach oben zieht. In solchen Situationen ist sie eher die
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