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Die Bibliothek der Schatten Roman

Die Bibliothek der Schatten Roman

Titel: Die Bibliothek der Schatten Roman
Autoren: Mikkel Birkegaard
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Leben gelebt hatte.
    Jon kam gerade noch rechtzeitig und wurde von einem sichtlich nervösen Iversen empfangen, der auf dem Kiesplatz vor der Kapelle wartete. Jon erkannte den langjährigen Mitarbeiter seines Vaters in Libri di Luca sofort wieder. Sie hatten vor ein paar Tagen miteinander telefoniert. Iversen war es gewesen, der Luca morgens nach dessen Herzinfarkt tot im Antiquariat gefunden hatte und sich anschließend auch um die Beerdigung gekümmert hatte. Er war immer schon ein Mann der Tat gewesen, der sich voller Hilfsbereitschaft der Dinge annahm, die getan werden mussten.
    Wenn Jon als Kind ins Geschäft gekommen war, endete es immer damit, dass Iversen ihm Geschichten vorlas, wenn Luca keine Zeit hatte oder geschäftlich unterwegs war. Im Laufe der letzten 15 Jahre waren Iversens Haare weißer, seine Wangen etwas voller und die Gläser seiner Brille dicker geworden. Nur das warmherzige Lächeln, das Jon entgegenstrahlte, als der Mann mit seiner Mappe unter dem Arm auf ihn zuschritt, war noch das gleiche.
    »Gut, dass du kommst, Jon«, sagte Iversen und drückte Jons Hand voller Zuneigung.
    »Hallo Iversen. Schon ein Weilchen her, was?«, antwortete Jon.
    Iversen nickte. »Ja, du bist ganz schön gewachsen, Junge«, stellte er mit einem Grinsen fest. »Als wir uns das letzte Mal
gesehen haben, warst du kaum größer als das vierbändige Konversationslexikon von Gyldendal.« Er ließ Jons Hand los und klopfte ihm auf die Schulter, um zu demonstrieren, wie groß er geworden war. »Es geht gleich los«, verkündete er und lächelte entschuldigend. »Wir können hinterher reden.« Seine Augen bekamen einen ernsten Ausdruck. »Es ist wichtig, dass wir uns unterhalten.«
    »Natürlich«, erwiderte Jon und ließ sich in die Kapelle führen.
    Zu seiner Überraschung war die Halle fast bis auf den letzten Platz besetzt. Auf den Bänken saßen Menschen jeden Alters, von glucksenden Säuglingen mit ihren Müttern bis hin zu greisen alten Männern, die aussahen, als würde die Zeremonie ihnen zu Ehren abgehalten. Soweit Jon wusste, hatte Luca neben dem Geschäft nur einen einzigen Kontakt zur Außenwelt gehabt, eine Art italienischen Freundeskreis, doch die Anwesenden sahen sehr gemischt aus und waren ganz sicher nicht alle italienischer Abstammung.
    Alle Augenpaare folgten den beiden Männern, als sie durch den Mittelgang zu den beiden freien Plätzen in der ersten Reihe gingen. Das Murmeln wurde lauter. Auf dem Boden vor dem Altar stand ein weißer Sarg, umringt von Blumenkränzen und Gebinden in allen Farben, die bis weit in den Kirchengang hineinreichten. Der Kranz, den Jons Sekretärin auf sein Geheiß hin besorgt hatte, lag auf dem Deckel des Sarges. Auf dem Band stand nur »Jon«.
    Nachdem sie sich gesetzt hatten, beugte Jon sich zu Iversen hinüber.
    »Wer sind all diese Leute?«
    Iversen zögerte einen Augenblick, ehe er antwortete.
    »Freunde des Libri di Luca«, flüsterte er zurück.
    Jon riss die Augen auf. »Dann scheint das Geschäft ja gut zu laufen«, konstatierte er leise und sah sich in der Kapelle um. Es waren sicher an die 100 Personen.

    Aus seiner Kindheit erinnerte er sich noch gut an die Stammkunden, die den Laden besuchten, doch dass es so viele waren, die sich überdies verpflichtet fühlten, zu Lucas Beerdigung zu kommen, überraschte ihn. Die Kunden, an die er sich am besten erinnerte, waren merkwürdige Existenzen, kauzige Sonderlinge, die ihr Geld für Bücher und Kataloge ausgaben statt für Essen und Kleider. Sie konnten sich stundenlang im Laden aufhalten, ohne etwas zu kaufen, und häufig kamen sie bereits am nächsten oder übernächsten Tag wieder, um die gleichen Regale und Schränke zu durchsuchen, als wollten sie kontrollieren, ob die Früchte jetzt reif für die Ernte waren.
    Ein Priester trat in die Kapelle und schwebte in seinem bestickten Talar hinter die Kanzel. Das Flüstern im Raum erstarb, und die Zeremonie begann. Der Priester schwang das Weihrauchgefäß in Richtung der Anwesenden, und ein schwacher Duft breitete sich aus. Danach erfüllte die ruhige Stimme des Geistlichen den Raum. Er sprach über Freiräume, Platz zum Atemholen, Zuhören, die Kunst, andere Menschen etwas erleben zu lassen, und die grundlegenden Werte des Lebens wie die Kunst und die Literatur.
    »Luca war ein Garant für diese Werte«, predigte der Priester. »Ein freigiebiger Mann voller Wärme, Wissen und Gastfreundschaft.«
    Jon starrte vor sich hin. Hinter sich vernahm er das zustimmende Nicken
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