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Die Attentaeterin

Die Attentaeterin

Titel: Die Attentaeterin
Autoren: Yasmina Khadra
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schon in den Patio geschoben, ich sehe ihn durchs Fenster, steif und feierlich auf seinem Thron, einem wiedergenesenden Totem ähnlich. Er wartet auf den Sonnenaufgang. Faten hat gerade Fladenbrot gebacken. Sie serviert mir das Frühstück im Wohnzimmer, frisches Obst und gebutterte, in Honig getauchte Schnitten. Ich frühstücke allein, da Wissam noch schläft. Faten kommt von Zeit zu Zeit nachsehen, ob es mir an nichts fehlt. Nach der Mahlzeit gehe ich zu Omr in den Patio hinaus. Er drückt mir die Hand, als ich mich vorbeuge, um ihn auf die Stirn zu küssen. Wenn er so schweigsam ist, dann, um jeden Moment, den ich bei ihm bin, intensiv auszukosten. Faten geht in den Hühnerstall, um die Küken zu füttern. Jedes Mal, wenn sie an mir vorbeikommt, lächelt sie mich auf dieselbe Art an. Trotz der Rauheit des Hoflebens und der Grausamkeit des Schicksals klammert sie sich hier fest. Ihr Blick ist verdorrt, ihre Bewegungen entbehren der Anmut, doch ihr Lächeln hat sich eifersüchtig eine verschämte Zärtlichkeit bewahrt.
    »Ich drehe mal eine Runde«, sage ich zu Omr. »Wer weiß? Vielleicht finde ich ja den Kupferknopf wieder, den ich hier in der Gegend vor über vierzig Jahren verloren habe .«
    Omr wackelt mit dem Kopf und vergisst, meine Hand loszulassen. Seine von Sandstürmen und Unglücksschlägen zerschlissenen Augen leuchten wie matt schimmernde Edelsteine.
    Ich nehme die Abkürzung durch den Gemüsegarten und bin schon mittendrin zwischen lauter Baumgerippen, den Überresten des einstigen Obstgartens, auf der Suche nach meinen Kindheitswegen. Die Pfade von damals sind alle verschwunden, doch die Ziegen haben neue angelegt, vielleicht nicht ganz so gründlich, aber ebenso unbekümmert. Ich erblicke den Hügel, von dem aus ich mich einst aufgemacht habe, die geruhsame Stille zu erobern. Die Hütte, in der mein Vater sein Atelier eingerichtet hatte, ist zusammengebrochen. Eine Mauer sträubt sich noch gegen den Zerfall, doch der Rest ist nur noch Ruine, unter den Regengüssen in sich zusammengesackt. Ich gelange zu einem Mäuerchen, hinter dem wir, ein ganzer Schwarm von Cousins, Pläne für Überfälle auf feindliche Armeen ausgeheckt haben. Ein Mauerteil ist einseitig weggebrochen und sein Inneres von Unkraut überwuchert. An genau diesem Ort hatte meine Mutter meinen totgeborenen Welpen begraben. Ich war so traurig, dass sie mit mir zusammen in Tränen ausbrach. Meine Mutter … eine barmherzige Seele, die sich in fernen Erinnerungen verflüchtigt; eine Liebe, für alle Zeiten verloren im Raunen der Lebensalter. Ich setze mich auf einen großen Stein und lasse die Erinnerungen kommen. Der Sohn eines Sultans war ich nicht, doch ich sehe einen Prinzen vor mir, der die Arme ausbreitet wie Vogelschwingen und über dem Elend der Welt schwebt, einem Gebet über dem Schlachtfeld gleich, einem Gesang über dem Schweigen derer, die nicht mehr singen können.
    Da dringt die Sonne in meine Gedanken ein. Ich erhebe mich und klettere den Hügel empor, den ein paar zerrupfte Bäume bewachen. Jetzt noch eine Böschung hinunter und hinauf auf die Kuppe: hier war mein Aussichtsturm, mein Mirador, zu Zeiten, da die Kriege noch glücklich waren. Früher, wenn ich hier oben stand, trug mein Blick so weit, dass ich mit ein wenig Konzentration das Ende der Welt erahnen konnte. Heute, wer weiß welchen verderblichen Absichten entsprungen, erhebt sich dort eine scheußliche Mauer und verstellt mir den Blick in meinen Kinderhimmel, so anstößig, ja geradezu schamlos, dass die Hunde das Bein zum Pinkeln lieber an den Dornenranken heben.
    »Scharon ist dabei, die Torah verkehrt herum zu lesen«, sagt da eine Stimme in meinem Rücken.
    Ein Greis mit schlohweißer Mähne steht im Faltenwurf seines verblichenen, doch reinlichen Gewands hinter mir. Auf seinen Knotenstock gestützt, mustert er mit betrübter Miene die Mauer, die den Horizont verdeckt. Man könnte meinen, Moses vor dem Goldenen Kalb stünde dort.
    »Der Jude irrt beständig umher, weil er keine Mauern erträgt«, bemerkt er, ohne auf mich zu achten. »Es ist kein Zufall, wenn er eine Mauer errichtet hat, um darüber in Wehklagen auszubrechen. Scharon ist dabei, die Torah verkehrt herum zu lesen. Er glaubt, er würde Israel vor seinen Feinden schützen, und sperrt doch nur sein Land in ein neues Ghetto ein, weniger schrecklich, gewiss, aber genauso ungerecht …«
    Endlich wendet er sich zu mir. »Verzeihen Sie, wenn ich störe. Ich habe Sie den Pfad entlangkommen sehen
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