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DIE ASSASSINE

DIE ASSASSINE

Titel: DIE ASSASSINE
Autoren: Joshua Palmatier
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Handgelenk bis zum Ellbogen eine Dolchklinge darüber gezogen. Jäh schaute ich die Frau an und erstarrte.
    Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und wischte sich mit zittriger Hand über die Stirn. »Danke«, sagte sie, atmete durch und deutete auf den Korb. »Und jetzt gib ihn mir zurück. Aber vorsichtig!«
    Erleichterung erfasste mich. Die Frau hatte die Berührung nicht gespürt, hatte weder den sengenden Schmerz noch sonst etwas Ungewöhnliches bemerkt.
    Ich drückte ihr den Korb in den Arm, wobei ich darauf achtete, nicht noch einmal mit ihrer Haut in Berührung zu kommen. Die Frau ächzte unter dem Gewicht. Ich trat beiseite und ließ sie vorbei. Keuchend mühte sie sich den Gang hinunter und verschwand um eine Biegung.
    Ich sah ihr nach und kniff die Augen zusammen. Eigentlich hätte ich keinem Menschen über den Weg laufen sollen, erst recht niemandem von der Dienerschaft. Niemand durfte wissen, dass ich hier war.
    Ich musste vorsichtiger sein.
    Abermals tastete ich nach meinem Dolch, wandte mich ab, setzte mich in Bewegung und schüttelte die Gedanken an die Frau ab, während ich in der entgegengesetzten Richtung durch den Gang schritt. Die Frau hatte kaum von ihren Körben aufgeschaut; sie war viel zu sehr darauf bedacht gewesen, ja nichts fallen zu lassen. Bestimmt würde sie sich nicht daran erinnern, einem Pagen begegnet zu sein. Nicht innerhalb des Palasts. Außerdem hatte ich keine Zeit zu verlieren, wollte ich vor dem Morgengrauen in die Gemächer der Regentin gelangen. Ich befand mich im äußersten Bereich der Palastanlage und musste noch zu dem Wäscheschrank mit der Bogenaussparung, vorbei an den Wachen im inneren Bereich.
    Ich schüttelte den Kopf und lief ein wenig schneller den schmalen Gang entlang, während ich in Gedanken den Grundriss des Palasts und die zeitliche Abfolge meines Vorhabens durchging. Der aufziehende Sturm ließ meine Haut prickeln und trieb mich zusätzlich an. Ich griff in eine Innentasche und betastete den darin verborgenen Schlüssel.
    Ich musste noch in dieser Nacht in die Gemächer der Regentin gelangen. Wir hatten bereits zu lange gewartet – sechs Jahre in der vergeblichen Hoffnung, dass die Dinge sich besserten. Sechs Jahre auf der ständigen Suche nach neuen Lösungen. Sechs Jahre seit der Wiederkehr des Weißen Feuers. Sechs Jahre seit dem Tag, nach dem die Dinge sich immer mehr verschlechtert hatten. Den Legenden zufolge hatte bereits das erste Feuer der Stadt den Verstand geraubt. Das zweite Feuer hatte einen schleichenden, unterschwelligen Wahnsinn verbreitet. Und nun stand der Winter vor der Tür. Die Meere wurden rauer und für Handelsschiffe unbefahrbar. Auch der Landweg würde bald versperrt sein, denn die Gebirgspässe wurden im Winter unpassierbar. Und die Vorräte schwanden.
    Meine Miene war hart und entschlossen, als ich in einen zweiten Gang einbog. Wir hatten alles versucht, es zu beenden.Wir hatten alles getan, was den Legenden zufolge damals, nach dem ersten Feuer, geholfen hatte. Doch alles war vergeblich gewesen. Nun gab es keine Wahl mehr.
    Die Regentin musste sterben.

Erster Teil
    DER SIEL

E RSTES K APITEL
    I ch richtete den Blick auf die Frau mit den dunklen Augen, dem breiten Gesicht und dem langen, glatten schwarzen Haar, dann auf den Korb an ihrer Hüfte, dessen Inhalt von einem Tuch bedeckt wurde. Die Frau trug ein sandfarbenes Kleid. Ein Dreieckstuch, das unter ihrem Kinn verknotet war, verhüllte den größten Teil ihres Kopfes. Die Frau war in der Menschenmenge auf der Straße einfach auszumachen. Sie bewegte sich ohne Eile und mit gesenktem Kopf.
    Ein leichtes Opfer.
    Wieder schaute ich auf den Korb, und meine Hand glitt zum Dolch, den ich in meinem zerschlissenen Hemd verbarg. Mein Magen knurrte.
    Ich biss mir auf die Oberlippe und richtete den Blick wieder auf die Frau, die noch immer den Kopf gesenkt hielt. Über die Straße hinweg versuchte ich, ihre Augen zu erkennen, denn die Augen offenbarten das meiste. Doch die Frau entfernte sich weiter, bis sie an einer Gassenmündung stehen blieb.
    Einen Augenblick später verschwand sie in der Gasse.
    Ich zögerte am Rand der Straße, die als der »Siel« bezeichnet wurde. Meine Finger kneteten den Dolchgriff. Menschen strömten an mir vorüber. Ich ließ den Blick über die Straße und die Leute schweifen und bemerkte dabei einen Gardisten, einen Fuhrmann mit kräftigen Schultern und einen verwahrlosten Strolch. Niemanden, der offenkundig gefährlich war. Niemanden, der eine
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