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Die achte Offenbarung

Die achte Offenbarung

Titel: Die achte Offenbarung
Autoren: Karl Olsberg
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sein, denn an drei Stellen endeten die Glyphen in der Mitte einer Seite und der Anfang der nächsten war mit einer Illumination verziert. Er vermaß das Buch und notierte eine Höhe von 17 und eine Breite von 11 Zentimetern in einer Datei auf seinem Laptop. Dann begann er mit der ersten kryptologischen Analyse.
    Er erstellte auf kariertem Papier eine Liste der Glyphen, die er grob abzeichnete. Es waren 25, zuzüglich einem senkrechten Strich, der in zwei unterschiedlichen Längen, mal einzeln, mal doppelt vorkam und den Paulus intuitiv als Satzzeichen interpretierte. Somit war klar, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Substitutionschiffre handelte, bei der jeder Buchstabe des lateinischen Alphabets durch eine Glyphe ersetzt worden war.
    Der nächste Schritt bestand darin, die Häufigkeit der Zeichen zu ermitteln. Er begnügte sich zunächst mit den ersten fünf Seiten und machte jedes Mal,
     wenn eine Glyphe im Text auftauchte, an der entsprechenden Stelle seiner Liste einen Strich. Auf diese Weise zählte er etwa 3000 Zeichen aus und übertrug
     sie in eine neue Tabelle, die ein klares Bild ergab:

    Wie er gehofft hatte, zeigten die Glyphen deutliche Unterschiede in der Häufigkeit. Die beiden häufigsten tauchten in sehr vielen Wörtern auf und bildeten zusammen etwa ein Viertel aller Zeichen. Dies entsprach typischen Häufigkeitsverteilungen bei bekannten Sprachen. Es handelte sich tatsächlich um eine einfache Substitutionschiffre. Das Entschlüsseln würde ein Kinderspiel sein.
    Die einzige noch offene Frage war, in welcher Sprache der Originaltext verfasst war. Wenn das Dokument aus dem Mittelalter stammte, dann war Latein am wahrscheinlichsten. Also öffnete Paulus eine Datei, die die Häufigkeit der Zeichen in lateinischen Texten wiedergab, und schrieb die Buchstaben neben die Glyphen. Da das traditionelle lateinische Alphabet nur 23 Buchstaben kannte, blieben zwei Glyphen übrig, die er nicht zuordnen konnte. Paulus ignorierte dieses Problem vorerst; es mochte sich bei den überzähligen Symbolen um die Zusammenfassung mehrerer Buchstaben oder um Symbole für Eigennamen handeln, das würde er später noch genauer untersuchen.
    Jetzt hatte er eine Übersetzungstabelle für die Glyphen:

    Er begann, für jede Glyphe den entsprechenden Buchstaben einzusetzen. Die häufig, jedoch nur am Ende eines Wortes auftretenden kurzen Striche interpretierte er als Kommata. Er merkte jedoch schon nach wenigen Wörtern, dass er auf dem Holzweg war, denn das Resultat sah nicht einmal ansatzweise wie Latein aus:
    OE BETIA NIAE UCCQIDNSOL LMS UELITODNS, RIA QODN EH VUCRS AHFFS XH TODN, BEER TPE UOELIVMAE TMEI …
    Als Nächstes versuchte er es aufs Geratewohl mit Deutsch. Dabei wählte er eine Häufigkeitstabelle des im ausgehenden Mittelalter verbreiteten Frühneuhochdeutschen, bei der U und V nicht unterschieden wurden, so dass sich genau 25 Zeichen ergaben. Die resultierende Übersetzungstabelle sah diesmal so aus:

    Er ersetzte die Glyphen durch die entsprechenden Buchstaben. Das Ergebnis wirkte allerdings auch nicht viel überzeugender als bei
     seinem ersten Versuch:
    HN ONREI DEIN SLLWEMDAHC CUA SNCERHMDA, TEI WHMD NO FSLTA IOKKA PO RHMD, ONNT RGN SHNCEFUIN RUNE XERO MDIHRA ONNT TER DEHLCEN CEHRAER ONNT TER DEHLCEN FEINSIT ONNT TEI CEWEHNRMDSKKA TEI DEHLCEN
    Zwar tauchten deutsche Wörter wie »Dein« und »Rune« im Text auf, aber das war höchstwahrscheinlich Zufall – der Rest ergab überhaupt keinen Sinn.
    Paulus wusste jedoch aus Erfahrung, dass das Knacken einer Substitutionschiffre etwas Geduld erforderte. Denn natürlich schwankten die Buchstabenhäufigkeiten von Schriftstück zu Schriftstück, und schon eine leichte Veränderung ihrer Häufigkeitsverteilung konnte einen Text gehörig durcheinanderbringen.
    Er betrachtete den Text einen Moment. Das Erste, das ihm auffiel, war ein Wort, das in dem kurzen Text viermal unverändert auftauchte: ONNT. Konnte es sein, dass dieses Wort nicht nur zufällig so ähnlich klang wie »und«, eines der häufigsten Wörter im Deutschen? Zwar hatte es vier Buchstaben, nicht drei, doch in den frühen Formen des Neuhochdeutschen, die im ausgehenden Mittelalter geschrieben worden waren, kamen durchaus Schreibweisen mit doppeltem N vor. Er erinnerte sich an einen Vertragstext zwischen zwei Hanse-Kaufleuten, den er erst kürzlich analysiert hatte. Darin war »und« mit V und Doppel-N geschrieben worden.
    Versuchsweise tauschte Paulus das O gegen das V und das D gegen
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