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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Köhlmeier
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ich verstand, schloss ich, dass er zu seiner kleinen Tochter sprach. Ich wollte seinen Traum nicht stören und ließ meinen Kopf auf der Bettkante ruhen, er streichelte über mein Haar, und ich schlief ein. Da kamen meine ägyptischen Tiere und setzten sich zu mir, und mir war so wohl zumute, nicht anders als vor über fünfzig Jahren, als sie mir zum ersten Mal in der Báthory utca begegnet waren. Und ich sagte: Warum seid ihr nicht schon früher gekommen? Ihr hättet mir helfen können. Ihr hättet euch mit meinen mexikanischen Tieren besprechen können, damit sie mir in meiner Not beistehen. Und ihr hättet euch mit meinen russischen Tieren besprechen können, damit sie mich nicht so quälen. Auf euch hätten sie vielleicht gehört. Und auf einmal wurde mein Herz bitter. Ihr habt mich im Stich gelassen, sagte ich. Ich war in Russland am Ende meiner Kraft und in Mexiko am Ende meiner Phantasie. Ich bin enttäuscht von euch. Habt ihr mir nicht versprochen, auf mich aufzupassen, damit mir nichts angetan wird und damit ich anderen nichts antue? Habt ihr mir das nicht versprochen? Aber sie sahen mich nur an mit ihren lebendigen, feuchten, glänzenden Augen. Ich habe einfach nur behauptet, sie hätten mir etwas versprochen. Das haben sie ja gar nicht. Und dennoch fühlte ich mich wohl bei ihnen, und im Schlaf wusste ich, dass mein Schlaf tief und erquickend war.
    Ich frühstückte mit den Stationsschwestern. Sie klärten mich auf, der Mann sei ein Staatssekretär unserer Regierung, und sie nannten mir seinen Namen. Ich kannte ihn nicht, natürlich nicht; lange war ich nicht in Wien gewesen; in Guadalajara, Tepoztlán und Chihuahua und in den Klüften der Sierra Madre Occidental hatte ich mich nicht für österreichische Politik interessiert; dort habe ich mich für nichts interessiert, womit man in der Welt reüssieren kann.
    »Sind Sie wirklich sein Schutzengel?«, fragte eine der Schwestern, sie war nicht älter als zwanzig. »Er glaubt es.« Sie glaubte es auch, das sah ich ihr an.
    »Das weiß ich nicht«, antwortete ich. »Aber ich möchte es lieber nicht sein.«
    »Warum denn nicht? Es kann doch nicht schlecht sein, wenn man der Schutzengel von einem Staatssekretär ist.«
    »Ich kenne ihn ja erst seit ein paar Stunden«, sagte ich. »Wäre Schutzengel zu sein nicht eine Lebensaufgabe?« Ich brachte sie durcheinander, das wollte ich nicht.
    »Aber es wäre doch auch eine schöne Aufgabe«, stammelte sie.
    »Es ist eine furchtbare Aufgabe«, sagte ich. »Niemand würde gern davon erzählen.«
    Ich betrat noch einmal das Zimmer des Staatssekretärs, um mich von ihm zu verabschieden und ihm Glück zu wünschen.
     
    Es sei durchaus erlaubt abzuschweifen; ein Buch sei ein mäandernder Fluss und kein Kanal – belehrte mich Sebastian Lukasser; nur eines: meine Geschichte dürfe ich dabei nicht aus dem Auge verlieren. Was aber, wenn man nicht nur eine Geschichte hat? Wenn man drei, zehn, hundert Geschichten zu erzählen hätte? Tatsächlich bin ich einigermaßen ratlos, wenn ich mein Leben nach Geschichten durchbürste. Ich hoffe, ich stecke den Leser mit meiner Verwirrtheit nicht an; ich werde mein Bestes tun, damit er den Überblick behält, wo ich keinen habe.
     

5
     
    Wo war mein Vater gewesen? Er behauptete: immer um mich herum. Nachdem mich meine Mutter gefunden hatte, habe sie ihn sofort benachrichtigt. Er sei nicht mehr von meiner Seite gewichen, und er habe von diesem Tag an gemeinsam mit mir, Moma und Opa und meiner Mutter in der Báthory utca gewohnt. Sein Studium habe er unterbrochen. Im Studentenheim und im Sekretariat der Universität habe er angegeben, er müsse ein Semester aussetzen, um seinen Eltern auf dem Hof zu helfen.
    Auch mein Vater war ein Lügner. Er meinte, ich komme ihm nicht dahinter. Er vertraute auf Dr. Balázs’ Diagnose, dass ich alles, was mit diesen fünf Tagen und vier Nächten zusammenhänge, bald aus meinem Gedächtnis gelöscht haben würde. Lange Zeit wusste ich nicht einmal seinen richtigen Namen. In unserem deutschsprachigen Haushalt wurde er Michael genannt oder Mischa (er sprach nicht besonders gut Deutsch; aber er lernte schnell und war sehr streng zu sich selbst, viel strenger als Moma, die ihm Unterricht gab – was mich vermuten lässt, dass er damals schon vorgehabt hatte auszureisen). Sein – in Ungarn – behördlicher Name lautete: Mihály Vít Šrámek (später in der Schule wurde ich als András Šrámek angemeldet). Er war ein Lügner, der meinte, er könne die
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