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Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen

Titel: Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
Autoren: Thilo Sarrazin
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Ihre Enkel wiederum werden sie um 60 Jahre überleben. Jeder »schwimmt« deshalb in einem Zeitfenster von rund 200 Jahren, das ihn persönlich interessiert.
    Versetzen wir uns zurück in das Jahr 1910. Damals war das Deutsche Reich mit seinen 65 Millionen Einwohnern nach China, Russland, der britischen Kronkolonie Indien und den USA auch im Weltmaßstab ein großes Land, mit 1,4 Millionen Geburten pro Jahr überdies sehr jung. Deutsch war Lingua franca in Mittel-, Ost- und Nordeuropa. Über die Hälfte der wissenschaftlichen Weltliteratur erschien auf Deutsch. Von den Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkriegs war nichts zu ahnen. Ein 21-jähriger Adolf Hitler schlug sich in Wien mit Gelegenheitsarbeiten durch, ein 40-jähriger Lenin schmiedete Umsturzpläne an Kaffeehaustischen in Genf, und ein 31-jähriger Josef Stalin verführte Frauen in der sibirischen Verbannung in Solwytschegodsk. Minimale historische Zufälligkeiten - der Schuss des Attentäters in Sarajevo wäre fehlgegangen, der
Meldegänger Hitler wäre von einer Granate getroffen worden, der deutsche Generalstab hätte Lenin 1917 nicht im verplombten Waggon nach Russland geschafft - und die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts wären verhindert worden. Vielleicht hätte es stattdessen andere Katastrophen gegeben, wir wissen es nicht. Wäre es deshalb damals sinnlos gewesen, sich über die Trends der Zukunft Gedanken zu machen? Ist es heute sinnlos? Natürlich nicht. Alle damals angelegten und absehbaren technologischen Trends wirken noch heute. Brüche wie Kriege und Katastrophen kann man aber nicht vorhersagen.
    Im Jahr 1910 waren die europäischen Großstädte elektrifiziert, die Kanalisationsrohre verlegt, und es gab Frischwasser in jedem Haus. In Berlin und anderswo fuhren die U-Bahn und die elektrische Straßenbahn. Jede Firma und alle wohlhabenden Privathaushalte hatten Telefon. Die ersten Flugzeuge zeigten sich am Himmel, und gegen Kopfschmerzen nahm man Aspirin. Das Kino war erfunden und lockte die Massen an. In der großen Politik gab es noch Kaiser. 1907 hatte Österreich-Ungarn Bosnien-Herzegowina annektiert und damit Serbien gegen sich aufgebracht. 1911/12 vertrieb der Balkankrieg das Osmanische Reich bis auf einen kleinen Brückenkopf endgültig aus Europa.
    Die Zeit vor 100 Jahren ist nah und fern zugleich, nicht anders ist es mit der Zeit in 100 Jahren. Vieles wird sich bis dahin kontinuierlich entwickeln, anderes umstürzend geändert haben: Niemand konnte vor 100 Jahren 70 Jahre Kommunismus vorhersagen, aber auch niemand, dass es damit nach 70 Jahren wieder ein Ende haben würde. Ein Mensch, der sich für seine Herkunft und für die Geschicke seiner Nachfahren interessiert, lebt in einem Ausschnitt der Weltgeschichte, der - je nach persönlichem Lebensalter - 80 bis 150 Jahre in die Zukunft reicht. Das ist auch etwa der Horizont seines Interesses an der Zukunft. Heute beschäftigt uns das Klima. Der Mainstream der Klimaprognosen geht davon aus, dass die Temperatur in Mitteleuropa in den nächsten 100 Jahren um zwei bis vier Grad steigen wird. Der Meeresspiegel der Nordsee wird bis dahin um 10 bis 20 Zentimeter gestiegen und das Leben in Mitteleuropa
klimatisch angenehmer sein. Ein Teil der an Heizkosten gesparten Beträge muss allerdings in den Deichbau investiert werden.
    Natürlich ist es nicht möglich, über das Deutschland in 100 Jahren eine seriöse wissenschaftliche Prognose zu erstellen. Wir wissen nicht, welche Kriege es bis dahin geben wird. Wir kennen nicht die Erfindungen, die noch gar nicht gemacht worden sind. Zur natürlichen Bevölkerungsentwicklung können wir aber sehr gesicherte Aussagen machen, wenn wir unterstellen, dass die Nettoreproduktionsrate bleibt, wie sie seit 40 Jahren ist. Aber auch die Nettoreproduktionsrate ist bis zu einem gewissen Grad politikabhängig, Migration und Integration sind es sowieso.
    Wenn man sich die schrecklichen Irrtümer, Dummheiten und Versäumnisse der Politik in Europa während der letzten 100 Jahre anschaut, dann kann man daraus lernen: Politik ist wesentlich, und politische Entscheidungen können die Welt zum Guten wie zum Bösen ändern. Wir haben das Schicksal und die Lebensverhältnisse unserer Kinder, Enkel und Urenkel in viel höherem Maße in der Hand, als wir das glauben. Wir können es aber auch verhunzen. Politische Katastrophen und ganz neuartige Technologien sind nicht vorhersagbar, die Folgen politischer Entscheidungen in die eine oder andere Richtung
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