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Deutschboden

Deutschboden

Titel: Deutschboden
Autoren: Moritz Uslar
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Auto war.
    Ey, Kollege.
     
    Gegen Mitternacht war ich zurück in Berlin, zufrieden und irre aufgewühlt zugleich, und schon zwei Tage später, zu Beginn der neuen Woche, fuhr ich wieder los, auf die Autobahn Richtung Nordosten.

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4 Hauptstraße
    Vor Siggi’s Laden lehnte mittags gegen zwölf ein Lattenrost, in Plastik eingeschweißt, auf dem Bürgersteig. Kostenpunkt: 15 Euro. Viele der Körbchen, die Haargummis, Hochzeitskarten und so weiter, standen ebenfalls einfach auf der Straße vor dem Haus.
    Ich betrat – ganz Reporter, der einen Hut auf dem Kopf hatte – den Laden, suchte eine Verkäuferin und fragte sie, wie es ihr so ging. Ich fand eine Frau mit geblümtem Arbeitskittel, um die fünfzig Jahre alt, die nicht recht hochgucken wollte und lieber in ihren Körbchen wühlte.
     
    Guten Tag, gute Frau. Wie geht es Ihnen?
    Die Frau sagte nichts, wühlte weiter. Die Frau drehte mir den Rücken ihres Arbeitskittels zu. Mir fiel das Wohnungsinserat ein, das zwischen den Spitzendeckchen in ihrem Schaufenster hing.
    Entschuldigung, aber die Wohnung, die in Ihrem Fenster hängt – gibt’s die noch? Könnte man sich die eventuell mal angucken?
    »Alle suchen Einraum-Wohnungen in Oberhavel. Die sind schwer zu kriegen, weil man als Arbeitsloser ja nicht in mehr Raum wohnen darf. Und nun, entschuldigen Sie …«
    Die Alte drehte sich um und sah mich von ganz unten an, beide Hände in den Wühlkörbchen. Lieber Himmel, die Frau musste wirklich hart arbeiten! »Ich kann mir hier ja von Ihnen keine Löcher in den Bauch fragen lassen, ich habe zu tun.«
    Ah. So war das.
    Interessant, interessant.
     
    Ich hatte bisher zwei Sorten von Gesprächen auf meinen Reisen durch den Osten geführt. Das eine Gespräch war – ganz gleich, ob ich danach gefragt hatte – bei Nazis, das andere bei Arbeitslosen gelandet. Es gab sie also, zwanzig Jahre nach Mauerfall, immer noch: die klassischen Ost-Themen. Als Reporter mit Hut musste ich mich auch um diese kümmern. Nützte nichts. Ich musste tapfer weiterfragen.
    Wie viele Arbeitslose gibt’s denn hier in Oberhavel? Ich meine: Ich habe keine Ahnung. Sind es viele Arbeitslose, gute Frau?
     
    »Kann ich Ihnen nicht genau sagen. Aber ja. Viele, viele Arbeitslose. Jeder Zweite in Oberhavel ist arbeitslos.« Ich verließ den Laden.
     
    In Berlin hatte ich übers Wochenende ein paar Daten über die Kleinstadt Oberhavel zusammengesammelt. Wissenswertes aus zweiter Hand, Informationen aus dem Internet, wie es so schön heißt:
    Oberhavel hatte – eingemeindete Dörfer eingerechnet – rund 14000 Einwohner. Das war nicht viel. Das hieß, dass man als halbwegs aufmerksamer Neuzugang nach etwa vier Wochen alle Typen, die am öffentlichen Leben teilnahmen – im Fußballverein, beim Preisskat, beim Saufen – einmal zu Gesicht bekommen hatte. Anders gerechnet: In einer Gemeinde von 14000 Einwohnern hatten vielleicht 300 ein öffentliches Gesicht.
    Oberhavel lag jenseits des Speckgürtels von Berlin, also jenseits der Gemeinden Oranienburg, Henningsdorf und Velten, die einen wirtschaftlichen Aufschwung und Bevölkerungszuwachs verzeichneten. Die Arbeitslosenquote lag bei 17 Prozent. Das war nicht übermäßig viel (in Berlin waren es 16,3 Prozent). Die gefühlte Arbeitslosigkeit war allerdings wesentlich höher, was daran lag, dass es in der Kleinstadt selbst kaum noch Arbeit gab. Die großen Betriebe waren nach der Wende abgewickelt worden. Wer arbeiten wollte, der nahm den Zug nach Berlin, oder er hatte sich auf eine Arbeitswoche eingelassen, die ihn von Montag bis Freitag ins Ausland, nach Schweden, England oder Holland, brachte.
    Die klassischen Ost-Probleme Abwanderung und Überalterung waren auch in Oberhavel spürbar, allerdings in abgeschwächter Form.
    Oberhavel war, anders als die umliegenden Orte, keine Stadt der ehemaligen Ackerbürger, sondern eine Arbeiterstadt. Das 19. Jahrhundert war wichtig für die Kleinstadt gewesen. Damals hatte man sich hier gewissermaßen erfunden.
    Oberhavel: Stadt der Schiffer und Ziegler. Um 1890 hatte man beim Bau einer Eisenbahnbrücke Tonvorkommen entdeckt. Damals hatten sich Stadt und Umgebung zur größten Ziegelindustrie in Europa entwickelt. Weil Berlin zur Jahrhundertwende zur Großstadt explodierte, florierte die Ziegelproduktion, der Baustoff aus Oberhavel ging in unzähligen Schiffsladungen über die Havel nach Berlin. Nach dem Krieg holte die DDR Vertriebene und Flüchtlinge als Arbeitskräfte und verhinderte so einen Zusammenbruch.
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