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Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich
Autoren: Heinrich Böll
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norddeutsche Stimme hinter ihm,
    »praktisch haben wir den Krieg schon gewonnen!«
    »Hm …«, macht eine andere Stimme.
    »Als ob der Führer einen Krieg verlieren könnte!« sagt eine dritte Stimme. »Es ist überhaupt Wahnsinn, so was zu sagen: Krieg gewinnen. Wer was sagt von Krieg gewin- nen, der denkt immer schon daran, daß man auch einen verlieren könnte. Wenn wir einen Krieg anfangen, dann ist der Krieg gewonnen.« – »Die Krim ist schon eingeschlos- sen«, sagt eine vierte Stimme, »bei Perekop haben die Russen sie zugemacht.«
    »Ich«, sagt eine sehr schwache Stimme, »ich muß ja auf die Krim …«
    »Nur noch per JU«, sagt die sichere Kriegsgewinner- stimme, »das ist fein, so mit der JU …«
    »Die Tommys wagen es ja nicht.«
    Das Schweigen derer, die nichts sagen, ist furchtbar. Es ist das Schweigen derer, die nicht vergessen, derer, die wissen, daß sie verloren sind.
    Der Blonde hat gemischt, und der Unrasierte hat fünfzig Mark gesetzt.
    Andreas sieht, daß er einen Royal Flush hat.
    »Ich setze hundert«, sagt er lachend.
    »Mit«, sagt der Unrasierte.
    »Zwanzig dazu.«
    »Mit«, sagt der Unrasierte. Natürlich verliert der Unrasierte.
    »Zweihundertvierzig Mark«, sagt eine Stimme hinter ih- nen, der man anhört, daß sie den Kopf dabei schüttelt. Es war eine Minute lang still, solange sie um den Pott ge- kämpft haben. Jetzt geht das Geschwätz wieder los.
    »Sauft«, sagt der Unrasierte.
    »Aber das ist doch Wahnsinn mit der Tür!«
    »Welche Tür?«
    »Sie haben die Tür verrammelt, diese Schweine, diese Kameradenbetrüger!«
    »Halt die Schnauze!«
    Ein Bahnhof ohne sonore Stimme. Gott segne die Bahn- höfe ohne sonore Stimmen. Das summende Geschwätz der anderen geht weiter, sie haben die Tür vergessen und die zweihundertvierzig Mark, und Andreas spürt allmählich, daß er ein bißchen betrunken wird.
    »Sollen wir nicht eine Pause machen?« sagt er, »ich möchte etwas essen.«
    »Nein«, schreit der Unrasierte, »auf keinen Fall, es wird bis Przemysl gespielt. Nein« – seine Stimme ist voll von einer schrecklichen Angst. Der Blonde gähnt und beginnt zu murmeln. »Nein«, schreit der Unrasierte …
    Sie spielen weiter.
    »Allein mit dem MG 42 gewinnen wir den Krieg. Dage- gen kommt doch keiner an …«
    »Der Führer wird’s schon schmeißen!«
    Aber das Schweigen derer, die nichts, gar nichts sagen,
    ist furchtbar. Es ist das Schweigen derer, die wissen, daß sie alle verloren sind.
    Der Zug wird manchmal so voll, daß sie kaum die Kar- ten halten können. Sie sind jetzt alle drei betrunken, aber sehr klar im Kopf. Dann wird es wieder leer, Stimmen werden laut, sonore und unsonore. Bahnhöfe. Es wird Nachmittag. Sie essen zwischendurch, spielen weiter, trin- ken weiter. Der Schnaps ist ausgezeichnet.
    »Das ist auch französischer«, sagt der Unrasierte. Er sieht jetzt noch unrasierter aus. Sein Gesicht ist ganz fahl unter den schwarzen Stoppeln. Seine Augen sind rot, er gewinnt fast nie, aber er scheint Massen von Geld zu ha- ben. Jetzt gewinnt der Blonde viel. Sie spielen: Meine Tante, deine Tante, weil der Zug wieder leer ist, dann spielen sie Häufeln, und plötzlich fallen dem Unrasierten die Karten aus der Hand, er sinkt nach vorne und beginnt schauerlich zu schnarchen. Der Blonde richtet ihn auf und rückt ihn liebevoll zurecht, so daß er mit angelehntem Rücken schlafen kann. Sie decken ihm etwas über die Fü- ße, und Andreas steckt ihm das gewonnene Geld wieder in die Tasche.
    Wie sanft und liebevoll der Blonde mit dem Unrasierten umgeht! Ich hätte das diesem weichen Lümmel gar nicht zugetraut.
    Was mag Paul wohl jetzt machen?
    Sie stehen auf und recken sich, schütteln Krumen und Dreck von ihren Schößen, Zigarettenasche, und schmeißen die letzte leere Pulle zum Fenster hinaus.
    Sie fahren durch eine leere Landschaft, links und rechts herrliche Gärten, sanfte Hügel, lachende Wolken – ein Herbstnachmittag … Bald, bald werde ich sterben. Zwi- schen Lemberg und Czernowitz. Beim Kartenspiel hat er
    versucht zu beten, aber er hat immer wieder daran denken müssen, er hat wieder Sätze in der Zukunft zu bilden ver- sucht und hat gespürt, daß sie keine Kraft haben. Er hat es wieder zeitlich zu verstehen versucht – alles Schaum, nichtiger, windiger Schaum! Aber er brauchte nur das Wort Przemysl zu denken, um zu wissen, daß er auf der richtigen Spur war. Lemberg! Das Herz stockt! Czerno- witz! Nichts … dazwischen muß es sein … er kann sich nichts
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