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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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rechtes Knie nicht belasten konnte und sich am
Geländer festhielt; die gewollt abgewetzte Aktenmappe eines Dichters mit
modisch schwarzgeränderter Brille; die Art, wie alle in Regenmänteln dastanden,
die Hände in die Taschen gesteckt, und sich leicht vorwärts drängten oder
geschoben wurden, bis sie ein dichtes Knäuel bildeten. Aber sie zwang sich,
nicht nach Thomas Ausschau zu halten, der entweder hinter ihr stand oder nicht
gekommen war. So daß sie, als sie im hinteren Teil des Busses saß und ihn beim
Einsteigen beobachtete, gleichermaßen überrascht wie verlegen war, verlegen,
weil er plötzlich seiner Männlichkeit beraubt war und wie ein Schulkind im Bus
fahren mußte. Sein Trenchcoat war zu ausladend, er hielt die Arme vor sich
verschränkt, und über seinem Rumpf wölbten sich seine Schultern. Robert Seizek,
der betrunkener war, als sie seit Jahren einen Mann gesehen hatte – sein
Gesicht wirkte, als müßte es Wasser sprühen, wenn man darauf drückte –,
brauchte Hilfe, um die Stufen hinaufzukommen. Die Autoren, die an diesem Abend
lesen mußten, wirkten geistesabwesend und aufs äußerste bemüht, sich entspannt
zu geben.
    Sie fuhren durch trüber werdende Straßen, die um diese Zeit
verlassen waren und einen eher nüchternen als charmanten Eindruck machten.
Linda versuchte, nicht auf Thomas zu achten, was schwierig war. Er sah
verlottert aus, ganz anders als Vincent, der das Talent besaß, makellos zu
erscheinen, genauso adrett und gepflegt wie sein Körper. Sie mochte es, wie
sich die Hemden ihres Mannes eng an seine Schultern schmiegten, wie er seinen
Bart stutzte, der immer perfekt in Form war. Er hatte italienische Ledergürtel
und maßgeschneiderte Hosen getragen, was bei Vincent keine Eitelkeit war,
sondern vielmehr das Erbe seiner eingewanderten Eltern, die ängstlich darauf
bedacht waren, daß ihre Kinder es in der neuen Welt schafften. Was bei anderen
geckenhaft gewirkt hätte, war bei Vincent Gewohnheit und hatte Stil; Vincent,
der nichts davon hielt, die harmlosen Wünsche seiner Eltern zu mißachten;
Vincent, den die allgemeine Unverschämtheit der Freunde seiner Kinder oft
verblüffte.
    Der Bus hielt an, und Linda war entschlossen, als letzte
auszusteigen. Sie würde sich im Restaurant einfach einen freien Platz suchen und
sich einem Fremden vorstellen. Aber als sie ausstieg, stand Thomas in der Nähe
der Tür und wartete auf sie.
    Er brachte es fertig, zwei Plätze abseits von den anderen zu finden.
Es war tatsächlich ein kleines Bistro, möglicherweise echt französisch. Die Festivalteilnehmer
waren in einem schmalen Raum mit zwei langen Tischen und Bänken untergebracht.
Linda und Thomas saßen an dem Ende, das sich am nächsten zur Tür befand, und
auch das schien ganz nach Art des Mannes zu sein, an den sie sich erinnerte, ein
Mann, der immer an schnelle Fluchtwege gedacht hatte. Sie bemerkte, daß das
Papiertischtuch, das bereits halbmondförmige Rotweinflecken aufwies, nicht lang
genug war. Thomas kritzelte gedankenverloren mit seinem Stift darauf herum. Es
herrschte entsetzlicher Lärm im Raum, und sie hatte das Gefühl, in einem Meer
aus Stimmen und unverständlichen Worten zu ertrinken. Dies zwang sie, sich
näher, geradezu verschwörerisch einander entgegenzubeugen, um sich zu
unterhalten.
    »Es ist eine Art Wiederaufleben, nicht wahr? Dieses Interesse an
Lyrik?«
    »Aber keine Renaissance«, antwortete sie nach einer Weile.
    »Mir wurde gesagt, es gebe hier zehn von unserer Sorte. In einer
Gesamtzahl von sechzig. Das sieht doch nach einem Rekord aus.«
    »Im Ausland ist es noch besser.«
    »Hast du das getan? Hast du an ausländischen Festivals
teilgenommen?«
    »Gelegentlich.«
    »Also bist du eine Weile auf Lesereisen gewesen?«
    »Kaum.« Sie ärgerte sich über die spitze Bemerkung. Sie gab die
verschwörerische Haltung auf und lehnte sich zurück. Er beugte sich näher zu
ihr und sah von seinem Gekritzel auf. »Du verkünstelst dich zu sehr bei deinen
Gedichten. Du solltest deine Geschichten als Geschichten erzählen. Deinem
Publikum würde das gefallen.«
    »Meinem Publikum?«
    »Deine Gedichte sind beliebt. Du mußt dein Publikum doch kennen.«
    Sie schwieg, verletzt wegen des versteckten Tadels.
    »Ich halte dich im Kern für eine Romanschriftstellerin«, sagte er.
    Sie wandte sich ab. ›Was für eine unverschämte Boshaftigkeit‹,
dachte sie. Sie erwog, aufzustehen und zu gehen, aber eine so theatralische
Geste würde offenbaren, wie verletzlich sie war,
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