Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)
Autoren: Bernhard Schlink
Vom Netzwerk:
sie, daß sie beobachtet wurde, und wandte mir ihr Gesicht zu.
    Ich sah die Erwartung in ihrem Gesicht, sah es in Freude aufglänzen, als sie mich erkannte, sah ihre Augen mein Gesicht abtasten, als ich näher kam, sah ihre Augen suchen, fragen, unsicher und verletzt schauen und sah ihr Gesicht erlöschen. Als ich bei ihr war, lächelte sie ein freundliches, müdes Lächeln. »Du bist groß geworden, Jungchen.« Ich setzte mich neben sie, und sie nahm meine Hand.
    Ich hatte ihren Geruch früher besonders geliebt. Sie roch immer frisch: frisch gewaschen oder nach frischer Wäsche oder nach frischem Schweiß oder frisch geliebt. Manchmal nahm sie Parfum, ich weiß nicht, was für eines, und auch dessen Duft war mehr als alles andere frisch. Unter diesen frischen Gerüchen lag noch ein anderer, ein schwerer, dunkler, herber Geruch. Oft habe ich an ihr geschnüffelt wie ein neugieriges Tier, habe an Hals und Schultern angefangen, die frisch gewaschen rochen, habe zwischen den Brüsten den frischen Schweißgeruch eingesogen, der sich in den Achselhöhlen mit dem anderen Geruch mischte, fand diesen schweren, dunklen Geruch um Taille und Bauch fast pur und zwischen den Beinen in einer fruchtigen Färbung, die mich erregte, habe auch ihre Beine und Füße beschnuppert, die Schenkel, an denen sich der schwere Geruch verlor, die Kniekehlen, noch mal mit leichtem frischem Schweißgeruch, und die Füße, mit dem Geruch von Seife oder Leder oder Müdigkeit. Rücken und Arme hatten keinen besonderen Geruch, rochen nach nichts und rochen doch nach ihr, und in den Handflächen war der Duft des Tages und der Arbeit: die Druckerschwärze der Fahrscheine, das Metall der Zange, Zwiebel oder Fisch oder gebratenes Fett, Waschlauge oder Bügelhitze. Werden sie gewaschen, verraten Hände zunächst nichts von alledem. Aber die Seife hat die Gerüche nur überdeckt, und nach einer Weile sind sie wieder da, schwach, verschmolzen in einen einzigen Tages- und Arbeitsduft, in den Duft des Tages- und Arbeitsendes, des Abends, der Heimkehr und des Daheimseins.
    Ich saß neben Hanna und roch eine alte Frau. Ich weiß nicht, was diesen Geruch ausmacht, den ich von Großmüttern und alten Tanten kenne und der in Altersheimen in den Zimmern und Fluren hängt wie ein Fluch. Hanna war zu jung für ihn.
    Ich rückte näher. Ich hatte gemerkt, daß ich sie zuvor enttäuscht hatte, und wollte es jetzt besser und wiedergutmachen.
    »Ich freue mich, daß du rauskommst.«
    »Ja?«
    »Ja, und ich freue mich, daß du in der Nähe sein wirst.« Ich erzählte ihr von der Wohnung und Arbeit, die ich für sie gefunden hatte, von den kulturellen und sozialen Angeboten im Stadtviertel, von der Stadtbücherei. »Liest du viel?«
    »Es geht so. Vorgelesen bekommen ist schöner.« Sie sah mich an. »Damit ist jetzt Schluß, nicht wahr?«
    »Warum soll damit Schluß sein?« Aber ich sah mich weder Kassetten für sie besprechen noch ihr begegnen und vorlesen. »Ich habe mich so gefreut und dich so bewundert, daß du lesen gelernt hast. Und was hast du mir für schöne Briefe geschrieben!« Das stimmte; ich hatte sie bewundert und mich gefreut, darüber, daß sie las und darüber, daß sie mir schrieb. Aber ich spürte, wie wenig meine Bewunderung und Freude dem angemessen waren, was Hanna das Lesen- und Schreibenlernen gekostet haben mußte, wie dürftig sie waren, wenn sie mich nicht einmal dazu hatten bringen können, ihr zu antworten, sie zu besuchen, mit ihr zu reden. Ich hatte Hanna eine kleine Nische zugebilligt, durchaus eine Nische, die mir wichtig war, die mir etwas gab und für die ich etwas tat, aber keinen Platz in meinem Leben.
    Aber warum hätte ich ihr einen Platz in meinem Leben zubilligen sollen? Ich empörte mich gegen das schlechte Gewissen, das ich bei dem Gedanken bekam, sie auf eine Nische reduziert zu haben. »Hast du vor dem Prozeß an das, was in dem Prozeß zur Sprache kam, eigentlich nie gedacht? Ich meine, hast du nie daran gedacht, wenn wir zusammen waren, wenn ich dir vorgelesen habe?«
    »Beschäftigt dich das sehr?« Aber sie wartete nicht auf eine Antwort. »Ich hatte immer das Gefühl, daß mich ohnehin keiner versteht, daß keiner weiß, wer ich bin und was mich hierzu und dazu gebracht hat. Und weißt du, wenn keiner dich versteht, dann kann auch keiner Rechenschaft von dir fordern. Auch das Gericht konnte nicht Rechenschaft von mir fordern. Aber die Toten können es. Sie verstehen. Dafür müssen sie gar nicht dabei gewesen sein, aber
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher