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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser
Autoren: Clare Clark
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Auf-
    fangkanäle benötigt, die von West nach Ost verliefen, drei da-
    von nördlich des Flusses, zwei weitere im Süden. Da das tieflie-
    gende Themsebecken für einen effizienten Abfluss des Wassers
    ein zu geringes Gefälle besaß, wollte Bazalgette die Kanäle mit
    künstlichen Gefällstufen anlegen und an wichtigen Abschnitten
    dampfbetriebene Pumpstationen errichten, die das Wasser sechs
    Meter hochpumpen und dann unter Ausnutzung der Schwer-
    kraft wieder freigeben würden. Die bereits bestehenden Abwas-
    serkanäle hingegen sollten nicht nur erneuert, sondern durch
    Hunderte Kilometer lange Seitenkanäle ergänzt werden, welche
    die Hauptkanäle speisten, damit das Netz die halbe Million Gal-
    lonen Abwasser, die jeden Tag durch die Eingeweide Londons
    strömten, fortschaffen konnte. Die Fertigstellung der ganzen

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    Anlage würde nach Bazalgettes Schätzung fünf Jahre dauern und
    die Stadt eine Summe in der Größenordnung von drei Millionen
    Pfund kosten.
    Doch die benötigten Gelder ließen auf sich warten. Das Parla-
    ment gewährleistete zwar den Fortbestand der Behörde, aber die
    Finanzierung von baulichen Verbesserungen oblag den Gemein-
    debezirken, die, entscheidungsschwach, endlos debattierten und
    alles hinauszögerten. Bazalgette wollte sich jedoch nicht entmu-
    tigen lassen. Nach und nach sammelte er eine Mannschaft von
    jungen Ingenieuren und Vermessern um sich, die sich mit einer
    zwangsläufig bescheidenen Entlohnung begnügten und uner-
    müdlich an seiner Seite arbeiteten, um die zahllosen Pläne und
    Zeichnungen anzufertigen, die zur Durchführung seines Vorha-
    bens nötig waren. Bazalgette hatte seine Freunde und Bekannten
    gebeten, ihm junge Männer zu nennen, die als Mitarbeiter geeig-
    net schienen. Und so kam es, dass im Frühjahr 1856 sein Freund
    Robert Rawlinson, ein angesehener Ingenieur, der erst kürzlich
    von seinem Posten bei Sutherlands Hygienekommission in Sku-
    tari zurückgekehrt war, ihm einen frisch gebackenen Vermesser
    namens William May empfahl.
    May hatte bereits zwei Monate in Skutari hinter sich, als Raw-
    linson am Ende des ersten harten Winters im Krimkrieg in dem
    türkischen Außenposten eintraf. Zwar kannte Rawlinson die
    Zeitungsberichte und hatte in den Armenvierteln Liverpools mit
    dem Bau sanitärer Anlagen bereits reichlich Erfahrung gesam-
    melt, aber dennoch entsetzten ihn die Zustände, die er in Skutari
    vorfand. Die verfallenen türkischen Kasernen, die als Lazarett
    dienten, glichen Elendsquartieren, überbelegt, verdreckt und
    unsäglich schlecht belüftet, und fast die Hälfte der Soldaten, die
    es geschafft hatten, den entbehrungsreichen viertägigen Trans-
    port von der Front hierher zu überstehen, starben, nachdem sie
    endlich angekommen waren, im Lazarett. Allein das so genannte

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    Kasernenlazarett verzeichnete täglich fünfzig Todesfälle. Die Lei-
    chen wurden in Decken eingenäht, auf einen offenen Karren ge-
    worfen und in eilig ausgehobenen Massengräbern bestattet. Eine
    Krankenschwester berichtete Rawlinson, dass sie einmal beob-
    achtet habe, wie türkische Soldaten mehrere Leichen in ein fla-
    ches viereckiges Loch warfen. Als einer der Soldaten merkte, dass
    der Kopf einer Leiche noch herausragte, trat er mit seinem Stiefel
    so lange auf ihn ein, bis er in dem Loch verschwunden war. Diese
    Stelle lag keine zwanzig Meter vom Lazaretteingang entfernt.
    Binnen vier Tagen inspizierten Sutherland und Rawlinson alle
    vier Lazarette und legten ihren Bericht vor. Umgehend machte
    sich Rawlinson dar n
    a , eine Gruppe von Männern zusammenzu-
    stellen, um für Verbesserungen zu sorgen.
    Die gestriegelten und geschniegelten Herren der Hygiene-
    kommission hätten unter den zerlumpten Soldaten von Skutari
    nicht deplatzierter erscheinen können, selbst wenn sie Häub-
    chen und Reifrock getragen hätten. Aber William nahm sie
    kaum wahr. Er hatte das Grauen von Inkerman überlebt, und
    zwei Monate später war er von einem russischen Infanteristen
    mit dem Bajonett aufgespießt worden, der sich auf ihn gestürzt
    hatte, als er allein und halb schlafend während der Nachtwache
    durch einen gefrorenen Schützengraben gestolpert war. Als ihn
    die Ablösung am nächsten Morgen fand, mit dem Gesicht nach
    unten im scharlachroten Schnee, war er fast nicht mehr bei Be-
    wusstsein. Noch Tage danach wusste er nicht, wo er sich befand.
    Wenn man ihn drängte, etwas zu sagen, stotterte er, übergab sich
    und brachte nur ein kindliches
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