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Der ungeladene Gast

Der ungeladene Gast

Titel: Der ungeladene Gast
Autoren: S Jones
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wollte. Sollte sie dabei laut werden, wollte sie lieber ein gutes Stück vom Haus entfernt sein.
    Die Luft war erfüllt vom wirren, herben Duftgemisch neuen Lebens, das sich aus der feuchten Erde hervorreckte. Dünne Wolkenfetzen überzogen einen wässrigblauen Himmel. Links von ihr lag die Tür zum Küchengarten und zu den Ställen. Vor ihr, sich im breitesten geometrischen Schwung weit und weiter ausdehnend, lag die Landschaft, die von Sterne beherrscht wurde. Sie erstreckte sich unter und vor ihr bis hin in eine verwischte, leuchtendblaue Ferne, in der die Felder ineinander verschwammen und die Hügel sich in nichts auflösten.
    Das Haus selbst erhob sich auf einem Stück Land, das so exakt halbkreisförmig, so akkurat gerundet war, dass es an eine Tortenplatte erinnerte, die von einer kultivierten Gesellschaft von Riesen in der Landschaft zurückgelassen worden war. Dichter, weicher Rasen, ähnlich einer flauschigen Decke, die man über einen Tisch breiten mochte, ließ die geschäftigen Muster der verstreut darunterliegenden Felder, Hecken, Kühe und Dörfer wie Spielzeugminiaturen aussehen, die die Fantasie eines Kindes hervorgebracht hatte.
    Ein Stück vom Haus entfernt bildete ein Graben am Rand des Gartens die Grenze zwischen Ordnung und freier Natur. Er wurde gesäumt von einer kniehohen, exakt geschnittenen Buchsbaumhecke, die verhindern sollte, dass unachtsam herumtollende Hunde in die Tiefe stürzten. Es war auch schon vorgekommen, dass kleine Kinder über die Kante purzelten, doch glücklicherweise war der Abhang im Fallen bedeutend sanfter, als es auf den ersten Blick schien. Als Clovis und Emerald noch klein waren, hatten sie oft Anlauf genommen und sich sehr zum Schrecken von Besuchern, die mit der Topografie nicht vertraut waren, in den vermeintlichen Abgrund gestürzt, nur um vergnügt lachend wieder zum Vorschein zu kommen, übersät vom Flaum des Löwenzahns, gespickt mit den langen Halmen der Hundsquecke oder mit Matsch verkrustet.
    Nun jedoch wanderte Emerald mit hängendem Kopf an der Rundung der niedrigen Buchsbaumhecke entlang wie ein einsames Karussellpferd.
    »Dieser hoffnungslose Kummer wegen nichts als ein paar Zimmern und einem ziemlich schadhaften Dach ist absolut irrational«, begann sie ihre Strafpredigt. »Und, offen gestanden …« Sie blieb stehen. »… ziemlich lachhaft.«
    Sie drehte sich zum Haus um, dessen Fenster hier und da aufblitzten. »Es hat überhaupt keinen Zweck, mich so anzusehen«, herrschte sie es an.
    Sie überquerte die Kiesfläche und begab sich in den Teil des Gartens mit den Blumenrabatten und der Sonnenuhr. »Dabei gibt es nicht einmal den Vorwand einer langen Familientradition!«, fuhr sie immer noch laut und aufgebracht fort.
    Es stimmte. Die Torringtons hatten keineswegs schon seit Generationen auf Sterne gelebt. Soweit Emerald wusste, hatten die Torringtons seit Generationen überhaupt nirgends im Besonderen gelebt. Sie waren eine alles andere als fest verwurzelte, sondern vielmehr eine den Geboten der Not folgende Familie, deren Mitglieder ihren Lebensunterhalt das eine Mal in einem Kontor, das andere Mal in einer Fabrik oder auch im Schifffahrtswesen verdienten, nach Frankreich gingen, um in einer Näherei zu arbeiten, oder vorübergehend zu Hause, in Somerset, Shropshire oder Suffolk, irgendeinen unbedeutenden Beitrag zu irgendeinem größeren Vorhaben leisteten, indem sie beispielsweise einen unwichtigen Bestandteil einer mächtigen Kathedrale oder einer Balkenbrücke entwarfen. Einige waren Kaufleute gewesen, ein oder zwei in Stellung. Es hatte einen Künstler gegeben, ein paar Soldaten. Alle tot. Alle tot.
    Das Leben ihres eigenen Vaters hatte sich nur dadurch ausgezeichnet, dass er es gewagt hatte, Sterne zu kaufen. Das Haus und das dazugehörige Land waren, als er noch nicht lange mit Charlotte verheiratet war, unbesonnenerweise auf dem Höhepunkt einer finanziellen Erfolgssträhne erworben worden, die sich leider als nur vorübergehend – um nicht zu sagen zufällig und glücksbedingt – erwies. Im Schein von Charlottes Bewunderung hatte Horace geglaubt, Torrington sei vielleicht der Name eines Mannes, dessen Familie in einem solchen Haus lebte. Horace hatte Sterne ebenso geliebt, wie er Charlotte und später seine Kinder liebte: voller Loyalität, Großzügigkeit und Dankbarkeit. Auch die Kinder, die sich als das Ende einer Linie sahen, wie Kinder es (zu Recht) immer tun, liebten Sterne so, wie erschöpfte Reisende nach einem Leben der
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