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Der Totenleser

Titel: Der Totenleser
Autoren: Michael Tsokos
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Suchaktion zu beteiligen. Ihre Tochter Laura sprang ebenfalls auf, und zur Überraschung aller sagte plötzlich auch der sonst so träge Nikolas, dass er mitkommen wollte.
    Nikolas Wiedemann sah die kleine Menschenmenge, die sich vor dem Funkstreifenwagen versammelt hatte – darunter viele bekannte Gesichter – und ging direkt dar auf zu. Er erzählte den Polizisten, dass er Michelle erst vor gut einer Stunde vor dem Haus gesehen hatte. Anschließend holte er sein Fahrrad vom Balkon der mütterlichen Wohnung und fuhr mehrmals die Straßen in der Nachbarschaft ab. Zwischendurch suchte er zusammen mit anderen Jugendlichen in den verschiedenen Kellereingängen des großen Mietkomplexes, in dem auch er selbst wohnte.
    Von dem Moment an, als zwei Nachbarsjungen das Fahrrad ihrer Tochter am anderen Ende der Straße gefunden hatten, in der sie selbst wohnten, spürte Nadine Angerer keine Hoffnung mehr. Irgendwas Schlimmes musste passiert sein. Michelles Fahrrad stand unabgeschlossen vor dem Eingang der riesigen Mietskaserne, in der Laura wohnte, aber bei der war Michelle nicht. Nadine Angerer stand mitten auf der von Scheinwerfern hell erleuchteten Straße und starrte verzweifelt auf die Szenerie. Es wimmelte von bekannten und unbekannten Nachbarn, unzähligen Polizisten und Leuten mit Kameras und Mikrophonen, allesamt angestrahlt von den Scheinwerfern, die der Technische Hilfsdienst hier in Windeseile aufgebaut hatte. Und alle redeten durcheinander.
    Plötzlich kam Laura Wiedemanns 17-jähriger Bruder Nikolas auf sie zu und redete sofort auf sie ein. Er erzählte ihr, er habe gesehen, wie Michelle zum Laden an der Ecke gegangen sei. »Gegangen? Wo war denn ihr Fahrrad?«, fragte sie in ihrer Panik. Als er sich daraufhin verbesserte – »Na ja, sie ist gefahren.« –, wurde sie sofort wütend auf ihn und beschimpfte ihn, er solle sich mal entscheiden. Statt beleidigt abzuziehen, erzählte er weiter: Dass er mit ihr gesprochen und sie ihm verraten habe, dass sie keine Lust auf Aufräumen habe und deshalb lieber zu einem Freund einen Stadtteil weiter fahren wolle.
    »Das ist eine Lüge!«, schrie Nadine Angerer. Wenig später zog sie sich kraftlos zurück in ihre Wohnung, wo sie von zwei Polizeipsychologen betreut wurde.
    Inzwischen wurde der Großeinsatz von ganz oben geleitet. Alle Informationen gingen sofort direkt an den LKA-Chef und seine Mitarbeiter. Als die Suche um halb zwei in der Nacht noch immer zu keiner Spur von Michelle geführt hatte, brach der LKA-Chef den Einsatz ab, allerdings mit der Maßgabe, die Suchaktion bei Tageslicht fortzusetzen. Dennoch wollte der Führungsstab die Zeit bis dahin nicht ungenutzt verstreichen lassen, sondern alle bisherigen Ergebnisse auswerten, um vielleicht doch noch einen Hinweis auf den möglichen Verbleib des kleinen Mädchens zu entdecken.
    Als die eilig gebildete Sonderkommission um drei Uhr morgens damit begann, die eingegangenen Meldungen zu sichten, fiel der Blick bald auf den Bericht einer Polizistin, die mitbekommen hatte, wie Michelles Mutter einen Jungen angeschrien hatte, weil sie nicht glauben konnte, was er ihr erzählt hatte. Die Polizistin hatte weiter vermerkt, dass die Argumente der Mutter ihr glaubhaft erschienen waren. Diese Information passte auf verstörende Weise zu den Aussagen mehrerer anderer Beamter, denen der junge Mann unbedingt von seiner Begegnung mit Michelle hatte erzählen wollen.
    Angesichts der Tatsache, dass auch noch Michelles Fahrrad vor dem Haus gefunden worden war, in dem auch der betreffende Nikolas Wiedemann und seine Familie wohnten, startete die Sonderkommission eine Abfrage im Polizeilichen Auskunftssystem POLAS. Das Resultat: Der 17-Jährige war bereits in zwei Fällen vorbestraft, einmal wegen »Fahren ohne Fahrerlaubnis«, einmal wegen »gemeinschaftlichen Diebstahls und Hehlerei«.
    Alle an der Sonderkommission beteiligten Polizeibeamten wussten, dass jetzt schnelles Handeln gefordert war – sei es, um vielleicht noch das Leben der Siebenjährigen zu retten, sei es, um ihren Mörder daran zu hindern, die Leiche verschwinden zu lassen.
    Nikolas’ Mutter konnte es nicht fassen, als um kurz nach halb fünf in der Nacht plötzlich die Polizei mit einem Durchsuchungsbeschluss vor der Tür stand und ihren Sohn zum Verbleib von Michelle befragen wollte. Wieso sollte Nick das verschwundene Mädchen in ihrer Wohnung versteckt halten? Der interessierte sich doch nicht für eine Siebenjährige. Außerdem hätten sie ja wohl alle etwas
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