Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
verbände. Er sprühte immer noch vor Zorn, schien jetzt aber zugleich verblüfft.
    »Kid Mendel?«, fragte er nach. »Aus Soho?«
    Der Mann nickte.
    »Sind Sie in diese Sache verwickelt?«
    »Ja. Aber gemach, gemach!«, sagte er ruhig und bestimmt, als Jim einen Schritt auf ihn zuging. »Ich weiß zwar nicht, wer Sie sind, aber Sie machen den Eindruck, als wollten Sie dem Gentleman Parrish das Fell gerben. Das war auch mein Gedanke. Ich möchte Sie aber darauf hinweisen, dass man uns vom Haus aus sehen kann. Solange wir uns noch nicht über unsere Position verständigt haben, sollten wir besser aus dem Blickfeld gehen.«
    Jim atmete tief durch und nickte. Mendel zog vor Sarah-Jane den Hut. Seine Stirnglatze und die klugen Augen gaben ihm das Aussehen eines Gelehrten. Aber nicht das eines versponnenen Stubengelehrten, sondern das eines weltoffenen, zupackenden. Sarah-Jane wusste nicht, in welche Schublade sie ihn stecken sollte.
    Alle drei stellten sich in den Schutz der Mauer.
    »Nun?«, sagte Jim.
    »Wenn Sie mir ein paar Minuten Zeit geben, sage ich Ihnen alles, was ich über diese Sache weiß«, sagte Mendel. »Dann können Sie mir Ihrerseits sagen, wer Sie sind, oder auch nicht, ganz wie Sie wollen. Und Sie können sich entscheiden, ob Sie meine Hilfe in Anspruch nehmen wollen oder nicht. Ich habe ein halbes Dutzend Männer um das Haus herum postiert, und wenn Ihnen mein Name nicht unbekannt ist, wissen Sie auch, was das für Männer sind.«
    Jim pfiff leise durch die Zähne. »Schön«, sagte er. »Schießen Sie los.«
    Sarah-Jane war völlig verwirrt. Mochte sich der Mann auch zuvorkommend geben, einen eleganten Mantel und einen schönen Hut tragen, irgendetwas an ihm flößte ihr Furcht ein.
    Mendel begann mit seinen Erläuterungen. Binnen fünf Minuten erzählte er ihnen alles über Goldberg, den Zaddik, Sallys Spionagetätigkeit, Harriet, Rebekka und Familie Katz und über die Art und Weise, wie Parrish Harriet in seine Gewalt gebracht hatte. Sarah-Jane war fassungslos und griff nach Jims Hand.
    »Miss Russell ist Harriets Kindermädchen«, sagte Jim. »Fahren Sie fort.«
    »Wir sind hier auf Beobachtungsstation, wie Mr Goldberg uns angewiesen hat. Wir haben Parrish ankommen sehen – aber von einem Kind haben wir nichts bemerkt. Vielleicht lag es an der Dunkelheit, vielleicht hat man die Kleine aber auch anderswo hingebracht. Wir wissen es nicht, und deshalb habe ich auch noch nicht den Befehl gegeben, ins Haus einzudringen. Aber ich schicke gleich einen Mann zum Telefon und lasse nachfragen, ob es Neues von den anderen Spähtrupps gibt.«
    »Ich verstehe. Wer ist eigentlich dieser Goldberg?«
    »Ein politischer Flüchtling. Ein Journalist. Ein Politiker. In gewisser Hinsicht auch ein Bandit. Ich schätze ihn sehr.«
    Jim musste das alles erst einmal verdauen. Dann streckte er ihm seine Hand entgegen.
    »Jim Taylor«, stellte er sich vor. »Meine Rolle in diesem Stück ist folgende: Ich wohne hier. Ich kenne Miss Lockhart seit Urzeiten und ich bin der Pate ihrer Tochter. Ich war auf Reisen in Südamerika, komme gerade heim und finde das hier vor. Ja, Sie hatten richtig geraten, ich wollte da einmal ordentlich dreinschlagen. Und Sie wollten mir Ihre Hilfe anbieten?«
    »Unbedingt.«
    »Verbindlichsten Dank. Wie viele Burschen haben Sie?«
    »Sechs.«
    »Dann schlage ich Folgendes vor: Selbstverständlich brechen wir nicht einfach ein. Ich habe nicht die Absicht, mich außerhalb des Gesetzes zu bewegen, Sie etwa?«
    »Nein, nein, keinesfalls!«, antwortete Mendel wie aus der Pistole geschossen. Die beiden verstanden sich auf eine hintergründige, ironische Art, die Sarah-Jane nicht gänzlich erfassen konnte. Irgendwie schienen beide zu lächeln, auch wenn ihre Mienen ernst blieben.
    »Schön«, fuhr Jim fort. »Dann darf ich Sie und Ihre Mitarbeiter zu einem kleinen Frühstück einladen. Die frische Morgenluft macht Appetit und ich kann in meine bescheidene Hütte einladen, wen ich will. Nur gehen wir heute der Abwechslung halber einmal nicht durch die Haustür, sondern klettern über die rückwärtige Grundstücksmauer und steigen durch ein Fenster im ersten Stock ein. Dann stoßen wir – wer hätte das gedacht – auf fremde Möbelstücke in meinem Zuhause. Skandalös. Also gleich die Fenster auf und hinaus damit. Daraufhin wird ein wildfremder Mensch die Treppe heraufkommen und wissen wollen, was hier vor sich geht. Sollte es ihm einfallen, handgreiflich zu werden und damit unsere verständliche
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher