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Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Titel: Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Autoren: Eliot Pattison
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Shan und Lokesh im Schein der aufgehenden Sonne Jamyang dabei geholfen, den chorten weiß zu tünchen. Shan riskierte einen Blick von der Ecke eines der zerfallenden Gebäude zum vorderen Teil des Innenhofs. Dort auf der anderen Seite stand, mit dem Rücken zu Shan, fast ein Dutzend Gestalten, die meisten davon in Uniform. Sie blickten in den Schatten des strahlend weißen chorten . Shan ging über ein Stück offenes Gelände geradewegs auf den nächstgelegenen der alten Dämonenschreine zu. Als er die Rückseite des kleinen Steingebäudes erreichte, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Er lehnte sich an die Wand und beruhigte sich. Dann warf er einen Blick durch die Lücke im Schutt, die früher das hintere Tor gewesen war, und fragte sich, ob er versuchen sollte, einige der hier versteckten Artefakte zu retten. Alles, was die Polizei fand, würde zum Staatseigentum erklärt und zerstört oder in irgendein verstaubtes Lagerhaus im Osten abtransportiert werden.
    »Es heißt, diese alten Ruinen seien voller Geister.«
    Er wirbelte zu der Frau herum, die gesprochen hatte. Ihre Uniform war die eines Leutnants der Öffentlichen Sicherheit und sah frisch gebügelt aus, der rote Emaillestern auf ihrer Mütze kürzlich poliert.
    »Und es werden immer mehr«, fügte sie beiläufig hinzu, als sie kurz zu ihm aufsah und dann wieder den Boden neben Shans Füßen absuchte.
    Shan bemühte sich, gleichmütig zu klingen. »Hier haben jahrhundertelang Menschen gelebt. Sie haben hier gelebt und sind hier gestorben.«
    Die Mittdreißigerin blickte erneut und lange genug auf, um ihn kühl anzulächeln, als hätte er einen Witz gemacht. Dann bückte sie sich und studierte das Muster der Schatten in der Erde um sie herum. »Im richtigen Licht hat sogar ein flacher Fußabdruck eine Geschichte zu erzählen«, verkündete sie in professionellem Tonfall.
    Während sie dort kniete, sah Shan die Latexhandschuhe, die gefaltet hinter ihrem Gürtel steckten, gleich neben einer kleinen Automatikpistole. Er wäre am liebsten einfach weggerannt, wich stattdessen aber einen Schritt zur Ecke des mit Gips verputzten Gebäudes zurück und legte seine Hand auf ein verblichenes religiöses Symbol, das in einem früheren Jahrhundert dort aufgemalt worden war. Ein allsehendes Auge.
    »Von einer solchen Wand kann man keine Abdrücke nehmen«, sagte die Offizierin, stand auf und zog ihre Uniform glatt.
    »Aber im Vorbeigehen können an einer rauen Oberfläche Fasern hängenbleiben.« Shan verspürte jähe Scham darüber, dass die Worte des ehemaligen Pekinger Ermittlers ihm so bereitwillig über die Lippen kamen. Er hatte dieses Leben aufgegeben und weit hinter sich zurückgelassen, nachdem er hier in Tibet seine neue Inkarnation gefunden hatte.
    Die Frau neigte den Kopf und versuchte ihn einzuschätzen, musterte eingehend seine zerlumpte Kleidung und die verschrammten Stiefel. Dann nickte sie zögernd und griff in eine der tiefen Taschen ihres Waffenrocks. Erschrocken sah Shan, dass sie mehrere Zellophanbeutel zum Vorschein brachte undan ihn weiterreichte. Jeder war am unteren Rand mit einem einzeiligen Aufdruck versehen: Büro für Öffentliche Sicherheit – Beweismittel. »Major Liang nimmt es mit den Vorschriften ganz genau«, sagte sie, ging weiter und verschwand um die nächste Ecke, den Blick wieder auf den Boden gerichtet.
    Shan starrte mit einer bösen Vorahnung die Tüten in seiner Hand an. Die Frau war nicht hier, um das Kloster zu zerstören, und nach Schmugglern suchte sie auch nicht. Und wieso hatte sie ihn so anstandslos akzeptiert? Sie hatte angenommen, dass er ungeachtet seines schäbigen Erscheinungsbildes irgendwie an einer Ermittlung beteiligt sei. Er trat ein paar Schritte vor und betrachtete die Personen in fünfzig Metern Entfernung. Jenseits der Gruppe Uniformierter stiegen Staubwolken von der Straße auf. Es näherten sich weitere Fahrzeuge. Shan wollte fliehen. Er musste fliehen. Dann dachte er an Lokesh, der bei dem Schrein mit dem Leichnam ihres Freundes wartete. Jamyang hatte an jenem Nachmittag ungewöhnlich interessiert an den Ruinen gewirkt. Shan drückte seine Hand ein weiteres Mal auf das Auge der Gottheit, murmelte ein schnelles Gebet und schlug dann einen langsamen, aber zielstrebigen Kurs zu den Polizisten ein.
    Er tat so, als würde ihn der Boden interessieren, während er die Stationen abschritt, an denen die Pilger einst große Gebetsmühlen gedreht hatten. Er hielt bei einem Haufen Zimmermannswerkzeuge inne, den die
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