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Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Titel: Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Autoren: Eliot Pattison
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anderen acht Glückszeichen des tibetischen Rituals. Von einer Kupferkanne starrte ein großes Auge. Der Griff einer kleinen Gerstensense wurde durch eine Ranke mit Lotusblüten geschmückt.
    Plötzlich erstarrte Shan. In der Mitte der Bank vor Jamyang lag etwas Neues, ein schwarzes und fremdes Objekt. Eine kleine Automatikpistole. Der Lama konnte unmöglich eine solche Waffe besitzen, doch dann sah Shan, dass auch sie mit einer Blume verziert worden war und dass auf dem Lauf das Mantra an den Mitfühlenden Buddha geschrieben stand. Shan wäre am liebsten aufgesprungen und hätte das tückische, hässliche Ding den Hang hinuntergeschleudert. Er sagte sich, dass es sich hierbei nur um eine weitere von Jamyangs Maßnahmen zur Befriedung der Welt handle und dass auch die Pistole für den Lama lediglich ein alltäglicher Gegenstand sei, der durch heilige Worte gereinigt werden könne. Die Alten glaubten, nach einer solchen Reinigung würde eine Waffe nie wieder Schaden anrichten.
    Shan widerstand dem Impuls und bemühte sich, sein wild klopfendes Herz zu beruhigen. Im Verlauf seiner Haft hatteer mehr als einmal mit angesehen, wie ein Mönch mit genau so einer Pistole exekutiert wurde, kniend und Mantras rezitierend, während der Henker über ihm stand. Er dachte daran, dass andere den Schrein besuchen würden, andere, die wussten, dass der Besitz einer solchen Waffe ein schweres Verbrechen war, andere, die Jamyangs Vorgehen womöglich nicht verstehen würden. Wo konnte der Lama die Pistole gefunden haben? Shan schob seine Angst beiseite und hielt sich vor Augen, dass Jamyangs Naivität in gewisser Weise eine Gabe war, ein Teil der Reinheit dieses Lehrers. Er lehnte sich zurück und beschloss, das Ritual nicht zu stören. Heute Nacht aber würde er zurückkehren und die Waffe verschwinden lassen.
    Sie saßen in der Nachmittagssonne und schauten dabei zu, wie die sich verändernden Schatten den Gottheiten auf dem Fels Bewegung verliehen. Der süßliche Rauch umwehte sie, und das einzige Geräusch kam von Jamyangs leisem Mantra und dem gelegentlichen Lied einer Lerche. Shan entspannte sich wieder und ließ nur die ehrerbietigen Worte in sein Bewusstsein, so wie die Lamas es ihn gelehrt hatten. Eine Pforte in seiner Erinnerung öffnete sich, und er fing an, die gleichförmigen Gebete der Mönche seiner ehemaligen Sträflingsbaracke zu hören, was sich auch diesmal wieder lindernd auf seine Befürchtungen auswirkte. In diesem Moment spielte es keine Rolle, dass ganze Brigaden chinesischer Polizisten nach Männern wie Lokesh und Jamyang fahndeten, zwei der sanftmütigsten, freundlichsten Menschen, die er je gekannt hatte. Es war egal, dass Knochenfänger durch die Hügel streiften, dass Außenstehende sich im Tal ansiedelten und tibetische Familien vertrieben, die hier seit Jahrhunderten verwurzelt gewesen waren. Er konnte vorübergehend die Todesträume vergessen, die immer häufiger seinen Schlaf heimsuchten. Er würde nicht einmal zulassen, dass Gedanken an seinen Sohn, der fünfzig Kilometer von hier in einem Straflager eingesperrtwar, einen Schatten auf diesen Tag warfen. Shan hatte von seinen Freunden zu akzeptieren gelernt, dass das Hier und Jetzt zählte, die Erfahrung dieses Moments. Und dieser Moment – in der Gegenwart des betenden Lama, mit einem Herz voller Vorfreude, weil Lokesh bald eintreffen würde und weitere andächtige Stunden bevorstanden – war perfekt.
    Jamyang blickte von seiner Meditation auf, als hätte er Shans Gedanken gelesen. »Die Götter sind zufrieden genug«, verkündete der Lama mit heiterem Lächeln. Er griff durch den duftenden Rauch und drückte Shans Hand. »Es gibt mir Kraft, dass du jetzt hier bist«, flüsterte Jamyang und wickelte sich seine Gebetskette um die Finger.
    Dann nahm der Lama die Pistole und schoss sich in den Kopf.

KAPITEL ZWEI
    Der Todestraum hatte wieder einmal von Shan Besitz ergriffen. Es musste sich um eine dieser unbarmherzigen Visionen handeln, die seinen Schlaf mit den Bildern gefolterter Lamas und hingerichteter Mönche zur Qual werden ließen. Ein leise schluchzendes Stöhnen hallte in der flachen Höhle wider, und er schaute sich hektisch nach dem Ursprung um, bis ihm bewusst wurde, dass es aus seiner eigenen Kehle drang. Dann sah er die karmesinroten Tropfen, die über seine Hand rannen, weil Blut auf ihn gespritzt war. Er stürzte an Jamyangs Seite.
    Die Augen des Lama waren offen und auf die herausgemeißelten Gottheiten über dem Altar gerichtet. Doch
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