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Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Titel: Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Autoren: Eliot Pattison
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er sah nichts mehr. Das Einschussloch in der Mitte seiner Stirn war sauber und rund, wie ein drittes Auge. Die Austrittswunde am Hinterkopf war ein blutiger Krater voller Knochensplitter und Hirnmasse.
    Shan liefen Tränen über das Gesicht, als er den toten Lama auf seinem Schoß barg. »Erkenne das strahlende Licht, das deinen Tod bedeutet.« Er hatte die Worte des Bardo, des traditionellen tibetischen Todesritus, schon so oft gehört, dass sie ihm wie von selbst über die Lippen kamen. Jamyangs Seele würde verwirrt sein und sich schrecklich vor der schwierigen Reise fürchten, die so unvermittelt anbrach. Daher mussten die Lebenden sie trösten. »Erkenne, dass dein Bewusstsein ohne Geburt oder Tod ist.« Er stieß die Worte mit kleinen ersticktenAtemzügen hervor, leiser und leiser, bis sie schließlich ganz erstarben.
    Shan wusste nicht, wie lange er dort, gelähmt vor Kummer, saß, wusste nicht, wie lange Lokesh schon zugegen war, aber als er aufblickte, stand sein Freund nur ein kurzes Stück entfernt und starrte den toten Lama mit gramerfüllter Miene an.
    »Wir haben die Opfergaben gereinigt«, erklärte Shan mit verzweifeltem Flüstern. »Diese Pistole hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Ich wollte sie heute Nacht verschwinden lassen. Aber er hat sie genommen und so schnell den Abzug gedrückt, dass ich nicht …« Lokesh trat vor und kniete sich neben den Leichnam. »Warum, Lokesh? Warum?«, krächzte Shan heiser. »Wir wollten doch seine Götter feiern …«
    Der alte Tibeter hob mit zitternder Hand Jamyangs Kopf von Shans Schoß, und sie legten den Toten vor dem Schrein auf die Erde. Lokesh stand reglos da und betrachtete den Leichnam. Dann, als würde die Wahrheit ihm letztendlich bewusst werden, sackten seine Schultern herab, und er fiel auf die Knie. Shans Herz zog sich regelrecht zusammen, als er sah, wie sein Freund sich den Kopf des Toten an die Brust drückte und sich hin- und herwiegte. Als Lokeshs Rücken an die Felswand stieß, rutschte er daran entlang zu Boden und stimmte starr vor Entsetzen erneut die Worte des Bardo-Ritus an. Der alte Tibeter kümmerte sich nicht um die Tränen, die über seine ledrigen Wangen flossen.
    Schließlich stand Shan auf, ging zu dem Eimer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, bevor er hinaus in den kühlen Wind trat und nach oben blickte. Es hieß, die Seelen der reinsten Lamas würden in einem Regenbogen aus Licht zum Himmel auffahren. Doch für Jamyang würde es keinen Regenbogen geben. Am Ende seines reinen Lebens hatte er eine schwere Sünde begangen, eine unreine Tat, die seine Seele dazu verdammen würde, unter den niedrigsten Lebensformenwiedergeboren zu werden. Die alten Tibeter damals im Straflager hatten es als Viererwahl bezeichnet, wenn jemand seinen Qualen ein Ende setzte, obwohl es für ihn eine Reinkarnation als vierbeinige Kreatur bedeutete. Shan unterdrückte ein weiteres Schluchzen. Was waren Jamyangs Qualen gewesen? Er hatte so viel gehabt, wofür es sich zu leben lohnte. Doch so unglaublich und unerklärlich es auch schien, er hatte die Viererwahl getroffen.
    Shan wusste, er musste seine Angst und Trauer beiseite schieben. Es gab viel zu tun, und zwar unter großen Risiken.
    »Hier können jederzeit Bauern und Hirten auftauchen«, sagte er zu Lokesh. »Das hier wird sich unmöglich geheim halten lassen.« Die Nachricht über einen unregistrierten Mönch, der an einem Kopfschuss gestorben war, würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. »Die Kriecher werden davon erfahren«, sagte er und meinte damit die gefürchteten Schergen der Öffentlichen Sicherheit, die Elite von Pekings vielen Vollstreckungsorganen. Falls die Kriecher herausfanden, dass hier einer der geächteten Mönche unter dem Schutz der Tibeter gelebt hatte, würden sie das als Vorwand dafür benutzen, zwei oder drei Dutzend Einheimische zusammenzutreiben und in eines von Pekings neuen Befriedungslagern zu verfrachten.
    Lokesh blickte fragend und unter Tränen auf.
    »Wir müssen ihn zur Hütte tragen, damit er gesäubert werden kann«, fuhr Shan fort. »Ich hole Hilfe aus der Einsiedelei.« Die acht Kilometer entfernt gelegene Nonnenklause war winzig, aber er wusste, dass die Bewohnerinnen Jamyangs Geheimnisse geteilt hatten. »Dann müssen wir ihn schnell wegbringen, bevor etwas hiervon durchsickert. Falls die Kriecher den Schrein entdecken, werden sie ihn zerstören.« Shan schaute mit neuer Pein zu den Basrelief-Gottheiten. Erst vor einer Woche hatte Jamyang gesagt, sie
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