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Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)

Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)

Titel: Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
Autoren: Bettina Münster
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Vorbestellung und ebenfalls im Speisezimmer. Möchten Sie hier zu Abend essen?“
    Emily schüttelte müde den Kopf und hoffte, der Redefluss der alten Dame würde bald ein Ende finden. „Vielen Dank, aber ich weiß nicht, wie lange ich unterwegs sein werde. Deswegen ist es besser, sich nicht festzulegen.“
    „Na schön, na schön. Aber bitte behalten Sie im Hinterkopf, dass die Haustüre um zehn Uhr abends verschlossen wird. Danach öffne ich nur noch in besonderen Fällen, wie bei Ihrer Ankunft jetzt zum Beispiel. Einen eigenen Haustürschlüssel erhalten meine Gäste nicht, nur Zimmerschlüssel. Das Risiko, dass jemand ihn verliert und dann ein Wildfremder möglicherweise ungehindert ins Haus kommt, ist mir einfach zu groß. Ich hoffe, Sie verstehen das.“
    Emily bedankte sich nochmals und konnte sich dann endlich ungehindert in ihr Zimmer zurückziehen. Als sie die Tür sorgfältig verschlossen hatte, ließ sie sich rücklings aufs Bett fallen und schlief auf der Stelle ein.
    Am nächsten Morgen wurde die junge Frau mit typisch englischem Wetter begrüßt: E s war diesig , kalt und ein feiner Sprühregen ging durch den dichten Nebelschleier auf die Straßen nieder, der um sechs Uhr morgens noch nicht verflogen war.
    Zunächst hatte Emily sich gewundert, dass sie von alleine so früh wach wurde. Doch dann fiel ihr ein, dass die Zeitumstellung ihre innere Uhr wahrscheinlich komplett aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Der Jetlag würde sie noch ein paar Tage beschäftigen, bevor sie sich vollends auf die Zeit ihres Heimatlandes eingestellt hatte.
    Während sie unter der heißen Dusche stand und das Gefühl des harten Wasserstrahls auf ihren Schultern genoss, dachte Emily an ihre Mutter. Emma Watson war nur wenig als Vorbild einer guten Mutter anzusehen, doch heute fragte sich ihre Tochter zum ersten Mal, warum das so war. Ihre Mutter hatte sie immer beschützt, aber meistens viel zu sehr. Eigentlich hatte Emily ständig unter Kontrolle gestanden, wenn sie es sich genau überlegte , und war von der Fürsorge ihrer Mutter regelrecht erstickt worden . Emily hatte das Haus nie in der Dunkelheit verlassen dürfen, was im Winter einfach grauenvoll war. Da sie sowieso kaum Freunde hatte, gab es zwar niemanden, mit dem sie sich abends noch hätte treffen können, doch sie hatte sich trotzdem sehr oft eingesperrt gefühlt.
    Bis sie acht Jahre alt war, hatte ihr Vater sich mit um sie gekümmert. Er hat te den Farmbetrieb geleitet, der zu dem alten Herrenhaus gehörte, das sie bewohnten, und war ihr in jeder Hinsicht ein liebevoller und guter Vater gewesen.
    Doch d rei Tage nach dem achten Geburtstag seiner Tochter war George Watson plötzlich spurlos verschwunden. Suchtrupps hatten tagelang die Gegend durchkämmt und ihn schließlich unweit des Hauses in einem Graben gefunden – mit einem Kopfschuss . Ihre Mutter hatte getobt und dem Ergebnis der Autopsie vehement widersprochen, es sei Selbstmord gewesen. Emily wusste aus einem Gefühl heraus , dass sie Recht hatte und das Ergebnis der Ermittlungen falsch sein musste . Sie waren eine glückliche Familie gewesen, bis zu dem Tag, an dem Mr. Watson verschwand.
    Danach hatte die übermäßige V orsicht ihrer Mutter angefangen. Wenn Emily vorher schon gehänselt wurde, weil es jedem unbegreiflich schien, dass es außer den Eltern keinerlei Verwandtschaft gab, so hatte man nun noch mehr Grund für Spekulationen, was mit der Familie nicht stimmte. Jeder Tag wurde zu einem unerträglichen Spießrutenlauf.
    Emily hatte gehofft, dass nach der Schulzeit alles anders würde, doch als sie sich nach ihrem Schulabschluss für einen Job bewerben wollte, bekam sie zu spüren, dass ihre Welt nur ein Dorf war. Da sie nicht allzu weit von London entfernt lebten, schien ihr auch der Weg in diese Millionenmetropole nicht weit genug weg zu sein, um der erstickenden Fürsorge ihrer Mutter und den quälenden Blicken ihrer Mitmenschen zu entkommen. Solange sie hier blieb, würde sie nie ihr Glück finden und eine Chance im Leben bekommen. Also hatte sie ihre sieben Sachen gepackt und war mit all ihrem Ersparten in ein Flugzeug nach New York gestiegen, wo sie dann studiert hatte und das Leben für sie endlich begann.
    Und nun war sie Waise. Der Gedanke ließ sie unter der Dusche ruckartig zusammenfahren. Das Wort hatte einen seltsamen Klang . Um sicher zu gehen, dass es auf sie zutraf, sagte sie es einmal laut: „Ich bin Waise.“ Sie blubberte ein wenig beim Sprechen, weil sie direkt mit dem
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