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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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ausgeprägt und drehten sich um ein windstilles Zentrum. Das Auge dieser Galaxie aus Wind, Hagel und Regen glich einem schwarzen Loch. Ein Hurrikan, wie er für diese Gegend völlig untypisch war.
    Die Nacht in diesem Lokal entwickelte sich zu einem orgiastischen Trinkgelage, wie es einst auf der Pirateninsel Tortuga stattgefunden haben könnte. Alle tranken hemmungslos. Irgendwann gab es Streit, und eine kollektive Prügelei begann. Draußen tobte immer noch der Sturm. Schwere Donnerschläge mischten sich in das Peitschen von Hagelböen. Die Flaschen in den Regalen zitterten. Ich beteiligte mich nicht an der Keilerei, sondern saß in einer Ecke und sah dem Ganzen zu wie einem Gemälde, das gerade unter den Händen eines aggressiven Malers entsteht.
    Plötzlich ging die Tür auf, und ein neuer Gast erschien. Ein kleiner Mann. Sein Mantel war zerrissen, und seine Haare waren nass. Er wirkte verstört, und als er sah, was los war, wollte er wieder gehen. Aber Luigi hatte ihn entdeckt und am Schlips gepackt, der ihm wie ein nasses Seil um den Hals hing. Wie einen störrischen Ziegenbock zog er ihn zum Gelächter aller Anwesenden in den Raum hinein und band ihn am Garderobenständer fest. Ich begriff, sie hatten einen Fremden gefunden, der das Fremdsein aller anderen noch überbot. »Seht mal, was für ein Prachtexemplar der menschlichen Rasse ich euch hier präsentiere«, schrie Luigi. »Er verdient es, gefoltert zu werden, wenn er es nicht selbst schon mit sich täte durch sein bloßes Dasein. Gebt dem Ziegenbock zu trinken, ehe wir ihn schlachten.«
    Einige näherten sich mit ihren Gläsern dem armen Kerl und versuchten, ihm Bier, Wein und Schnaps in den nach Luft schnappenden Mund zu kippen. Henry verteidigte das Opfer mit seinem abgenommenen Holzbein, das er als Knüppel benutzte. Der Regisseur saß im Hintergrund und schien sich prächtig zu amüsieren. »Wir müssen das Ganze nachstellen«, rief er. »Die Choreographie ist großartig.«
    Die Trunkenheit hatte mich mutig gemacht, denn auch ich ging jetzt dazwischen und stieß die Quälgeister zur Seite. Franco Celli half mir. Wir banden den Mann los und führten ihn zu einem Tisch. Celli brachte ihm einen Kaffee.
    »Was machen Sie hier?«, fragte ich.
    »Ich gehöre zu der Crew der Yacht«, sagte er in breitem amerikanischen Akzent, nachdem er sich gesammelt und beruhigt hatte. »Ich bin Schauspieler. Ich soll Marconi spielen. Ich habe mich verdrückt, als ich von dem heranziehenden Orkan hörte. Der Funker hat es mir erzählt. Es war mir zu unsicher an Bord. Wer weiß, wie seetüchtig dieses Schiff ist. Es ist schließlich nur eine Attrappe. Die Seitenwände, die Masten, der Schornstein, das Deckshaus, alles ist aus dünnem Holz und Blech. Darunter verbirgt sich ein Lastkahn mit einem ziemlich schwachen Motor. Die haben wieder mal versucht, Kosten zu sparen.«
    »Was wissen Sie von Marconi?«, fragte ich.
    »Nur was im Drehbuch steht. Und das taugt nichts, meiner Meinung nach.«
 

 

Kapitel 38
    A m nächsten Morgen versammelten wir uns, eine Gemeinde glücklich Betrunkener, vor der Gorillabar und gingen von dort zu dem großen Platz, von wo aus man die Küste nach Norden und Süden überblicken kann und wo der modern gesinnte Bürgermeister der weißen Stadt neuerdings ein Parkhaus bauen ließ direkt neben der Kirche, in der Ugos Sarg aufgebahrt gewesen war. Celli war der Erste, der es bemerkte: Das Kap des Windes ragte wie immer einer Kralle gleich ins Meer hinaus, aber seine Silhouette hatte sich verändert. Der Turm auf ihm fehlte.
    Wir machten uns auf, die Straße entlang zum Tunnel. Auch andere, Einheimische und Touristen, folgten in einer Art Prozession. Erregte Gespräche wurden geführt über den Verlust einer Attraktion, eines Wahrzeichens der weißen Stadt. Ich dachte an Carla und rannte los. Als einer der Ersten erreichte ich die Stelle, an der der Turm gestanden hatte. Nur noch die Grundmauern waren unversehrt. ܜberall Steine. Die meisten waren das steile Kliff hinabgestürzt. In Ritzen und Ecken flatterte Papier. Ich nahm eines in die Hand: Es war ein Brief meiner Mutter. Ich steckte ihn ein, aber ich gab den Versuch auf, noch mehr von den Dokumenten einzusammeln. Vom Mobiliar war nichts übrig, auch von Marconis Geräten nicht. Sie waren im ersten Stock gewesen, ebenso wie unser Bett, und all das war offenbar im Abgrund gelandet und trieb jetzt im Meer oder wurde von den Wellen zermahlen. Ich setzte mich ein wenig abseits auf einen Stein,
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