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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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und den Morsezeichen aus der Funkbude. In solchen Augenblicken war er ein Entdecker, auf der Suche nach dem Fremden, dem Unbekannten, als einem Spiegel seiner selbst.
    Was für eine Entwurzelung musste es für ihn, den eigentlich Wurzellosen, den Seewanderer, gewesen sein, dieses Leben aufzugeben, als er zum Inspektor ernannt wurde, als er das Schiff mit dem Auto vertauschen musste, die Brücke mit dem Bürozimmer! Seine Frau redete ihm ein, dass dies ein Glück für beide sei. Sie musste nun nur noch die acht Stunden seiner Dienstzeit auf ihn warten und nicht die Monate, während derer er auf See war. Doch die Person, die jeden Tag nach Dienstschluss die Tür aufschloss, sich die Schuhe im Flur abtrat und sich dann von seiner Frau in die Arme schließen ließ, war kein Entdecker mehr. Es war ein Erfüller von Pflichten, von Funktionen. Eine Hülse dessen, was ihn einst ausgemacht hatte, eine leere Schlangenhaut, verlassen vom Tier, das sich früher durch das Unterholz gewunden hatte mit dem Ziel, Beute zu machen. Welche Beute?, fragte ich mich. Sie war auf jeden Fall größer als der Jäger. Ich hatte Bilder gesehen, auf denen Schlangen große Tiere verspeisten, indem sie ihr Maul extrem aufzusperren und ihren Leib ungeheuerlich zu dehnen verstanden. Die Beute meines Vaters war vielleicht eine Art großer, wiewohl undeutlicher Sehnsucht. Eine Sehnsucht, größer als er selbst, verkörpert von der Weite des Meeres.
 

 

Kapitel 35
    I n den folgenden Tagen verhielt ich mich wie ein korrekter Nachlassverwalter in einer Sache, bei der es keine Erben gab. Ich ließ einen Makler kommen, um den Verkauf des Hauses einzuleiten. Ich holte mit dem Hausmeister die Besitztümer meines Vaters aus dem Altersheim. Ich annoncierte die Möbel, soweit sie wertvoll waren, und ließ für den Rest eine Entrümpelungsfirma kommen. In meinem alten Zimmer trug ich alles zusammen, was ich behalten wollte. Bilder, Bücher, Fotoalben, darunter die handgenähten Kinderschuhe, in denen ich Laufen gelernt hatte. Sie waren blau, mit bunten Blümchen bestickt. Dann sämtliche Aufzeichnungen meines Vaters, darunter zehn volle Leitzordner, die in seinem Zimmer im Altenheim gestanden hatten. Seine alte Seekiste mit verschiedenen Utensilien aus seinem Berufsleben: einem sogenannten Crewbeutel, der alles enthielt, was man zum Flicken von Segeln brauchte. Einen Segelhandschuh, Garn, starke Nadeln, einen Fitt, einen Marlspieker. Weiter einen Sextanten, ein Fernglas. Und natürlich die vielen Segelschiffsmodelle, die er im Verlauf seines langen Lebens gebaut hatte, vermutlich in einer Gefühlsmischung aus Sehnsucht und Langeweile. Es waren schöne Exemplare darunter. Auf den Rumpf und die Details an Deck wie Rettungsboote, Niedergänge, Steuer hatte er nie viel Wert gelegt, dafür umso mehr auf ein korrektes Rigg mit seinem stehenden und laufenden Gut, seinen Wanten, Pardunen, Taljen, Kauschen und Belegnägeln. Insgesamt bildete diese gewaltige Flotte aus über zwanzig Seglern den jeweiligen Gemüts-, Geistes- und Körperzustand meines Vaters ab. Die schönsten Modelle mit sich bauschenden Leersegeln aus weiß angemaltem Blech und bunten Fahnen baute er in der Zeit, als er als Inspektor beruflich erfolgreich war. Später wurden die Schiffe kleiner, unbeholfener. Die Segel waren aufgegeit. Die letzten Modelle sahen aus wie Wracks kurz vor dem Untergang.
    An Möbelstücken behielt ich nur den Ohrenstuhl und die Standuhr. In einem Geheimfach des Damenschreibtisches fand ich das Testament, das mich zum Alleinerben machte. Ich ging zur Filiale der Sparkasse und leitete die ܜberschreibung der Konten, Aktien und Sparbücher in die Wege. Einen größeren Betrag hob ich in bar ab. Es gab keine Probleme. Alle waren hilfsbereit. Das Haus leerte sich und glich bald dem Gehäuse, das ein Einsiedlerkrebs verlassen hat. Ich empfand keine Trauer. Es war ein Zustand zwischen Narkose und der Rückkehr in den Wachzustand.
    Meine apathische Gemütsverfassung änderte sich erst, als mir sein Hausarzt, der jetzt, zumindest vorübergehend, auch meiner war, eröffnete, dass meine Laborwerte, abgesehen vom Cholesterin und dem zu hohen Blutdruck, alle zufriedenstellend seien, sogar die Leberwerte, dass man jedoch okkultes Blut in meiner Stuhlprobe gefunden habe. Er schlage deshalb eine Darmspiegelung vor. Einen Termin beim Internisten habe er schon gemacht.
    Es wurde eine ziemliche Katastrophe. Der Arzt stellte eine fingergroße Zyste fest, die ein eindeutiges Krebsrisiko
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