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Der stille Amerikaner

Der stille Amerikaner

Titel: Der stille Amerikaner
Autoren: Graham Greene
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Schals. Es gab wirklich nicht sehr viel in den Koffer zu packen, weniger, als daheim in England ein Wochenendbesucher mitbringt.
    Im Wohnzimmer fand ich eine Fotografie von ihr und Pyle. Sie hatten sich im Botanischen Garten neben einem riesigen Drachen aus Stein aufnehmen lassen. Sie hielt Pyles Hund an der Leine – einen schwarzen Chow mit einer ebenso schwarzen Zunge. Ein allzu schwarzer Hund. Ich legte das Foto in den Koffer. »Was ist aus dem Hund geworden?« sagte ich.
    »Er ist nicht da. Möglicherweise hatte er ihn mitgenommen.«
    »Vielleicht kommt er zurück; dann können Sie die Erde an seinen Pfoten chemisch untersuchen lassen.«
    »Ich bin kein Meisterdetektiv wie Lecoq oder gar Maigret, und außerdem haben wir Krieg.«
    Ich ging hinüber zum Bücherschrank und betrachtete die zwei Reihen Bücher – Pyles Bibliothek. ›Der Vormarsch Rotchinas‹, ›Die Aufgaben der Demokratie‹ ›Die Rolle des Westens‹ – das waren offenbar die gesammelten Werke York Hardings. Außerdem gab es noch eine Unmenge von Sitzungsberichten des amerikanischen Kongresses, eine Sammlung vietnamesischer Redewendungen, eine Geschichte vom Krieg auf den Philippinen, eine Shakespeare-Ausgabe. Was hatte er zur Entspannung gelesen? Seine leichte Lektüre fand ich auf einem anderen Bücherbord: ein Werk von Thomas Wolfe in einer Taschenbuchausgabe, eine geheimnisvolle Anthologie, betitelt ›Der Triumph des Lebens‹, und eine Auswahl amerikanischer Lyrik. Ich fand auch ein Buch über Schachprobleme. Das schien nicht viel für den Ausklang eines Arbeitstags, aber er hatte ja Phuong gehabt. Versteckt hinter der Anthologie stand eine Broschüre mit dem Titel ›Die Physiologie der Ehe‹. Vielleicht studierte er das Sexualleben genau so wie den Fernen Osten – auf dem Papier. Und das entscheidende Wort lautete »Ehe«. Pyle hielt es für richtig, sich einzulassen.
    Sein Schreibtisch war ganz leer. »Sie haben hier reinen Tisch gemacht«, stellte ich fest.
    »Ach«, meinte Vigot, »ich mußte im Auftrag der amerikanischen Gesandtschaft alles beschlagnahmen. Sie wissen ja, wie schnell sich Gerüchte verbreiten. Es hätte hier geplündert werden können. Ich ließ seine gesamten Papiere versiegeln.« Das sagte er mit todernster Miene, ohne die Spur eines Lächelns.
    »Irgend etwas Belastendes?«
    »Wir können es uns nicht leisten, etwas zu finden, was einen Verbündeten belasten würde«, sagte Vigot.
    »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir eines dieser Bücher nehme – als Andenken?«
    »Ich werde wegsehen.«
    Ich wählte York Hardings Buch ›Die Rolle des Westens‹ aus und packte es zu Phuongs Kleidern in den Koffer.
    »Gibt es gar nichts, was Sie als sein Freund mir im Vertrauen mitteilen könnten?« sagte Vigot. »Mein Bericht ist fix und fertig. Er wurde von den Kommunisten ermordet. Vielleicht der Anfang einer Kampagne gegen die amerikanischen Hilfssendungen. Aber unter uns gesprochen – hören Sie, die Unterhaltung ist zu trocken; wie wär’s mit einem Vermouth-Cassis in der Bar gleich um die Ecke?«
    »Noch zu früh.«
    »Er hat Ihnen bei Ihrem letzten Zusammentreffen gar nichts anvertraut?«
    »Nein.«
    »Wann war das?«
    »Gestern morgen. Nach dem großen Krach.«
    Vigot machte eine Pause, damit der Sinn meiner Antwort voll bewußt werden könne – mir, nicht ihm: Seine Verhöre waren stets fair. »Sie waren nicht zu Hause, als er Sie gestern abend besuchen wollte?«
    »Gestern abend? Da muß ich wohl aus gewesen sein. Ich wußte nicht …«
    »Sie werden vielleicht ein Ausreisevisum brauchen. Es ist Ihnen wohl bekannt, daß wir seine Erteilung unbegrenzt verzögern können.«
    »Glauben Sie denn wirklich«, sagte ich, »daß ich nach Hause fahren möchte?«
    Vigot blickte durchs Fenster in den hellen, wolkenlosen Tag hinaus. »Die meisten Leute möchten es«, sagte er wehmütig.
    »Mir gefällt es hier. Daheim gibt es – Probleme.«
    »Merde!« rief Vigot plötzlich. »Da ist der amerikanische Handelsattaché.« Sarkastisch wiederholte er: »Handelsattaché!«
    »Dann mache ich mich lieber aus dem Staub; sonst läßt er mich auch noch versiegeln.«
    »Ich wünsche Ihnen viel Glück«, sagte Vigot mit müder Stimme. »Mir wird er schrecklich viel zu sagen haben.«
    Als ich aus dem Haus trat, stand der Handelsattaché neben seinem Packard und versuchte, seinem Fahrer irgend etwas zu erklären. Er war ein feister Mann in mittleren Jahren mit einem übergroßen Hinterteil und einem Gesicht, das aussah, als hätte es
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