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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler
Autoren: Donato Carrisi
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war vollkommen nackt. Ungefähr vierzig Jahre alt, dachte
sie. Neunzig Kilo, ein Meter achtzig. Der Kopf war unnatürlich abgewinkelt, und
in der Schädeldecke klaffte ein Sprung. Das Blut hatte eine dunkle Lache auf
den schwarz-weißen Fliesen gebildet.
    In den Händen hielt die Leiche eine Pistole.
    Daneben lag eine Scherbe vom Waschbecken. Sie war
höchstwahrscheinlich abgesplittert, als die Leiche dagegengefallen war.
    »Wozu brauchst du einen Gasheizkörper?«, fragte Sandra.
    »Ich muss den Tathergang nachstellen: Der Typ hat geduscht und den
Heizkörper mitgenommen, um das Bad zu beheizen. Gleich stelle ich das Wasser
an, also beeil dich mit deinem Kram«, sagte er unhöflich.
    Sandra begriff, was Sergi vorhatte: Der Dampf würde die Fußabdrücke
auf dem Boden sichtbar machen. Auf diese Weise könnten sie nachvollziehen, wie
sich das Opfer im Raum bewegt hatte.
    »Ich brauche einen Schraubenzieher«, verkündete der
Spurensicherungstechniker wütend. »Ich bin gleich wieder da. Versuch bitte, so
nah wie möglich an den Wänden zu bleiben.«
    Sandra sagte nichts darauf. Sie war solche Bemerkungen gewohnt. Die
Techniker bildeten sich ein, die Einzigen zu sein, die in der Lage waren, einen
Tatort zu dokumentieren. Hinzu kam, dass sie erst neunundzwanzig und eine Frau
in einem traditionellen Männerberuf war. Hinter solch bevormundenden Kollegensprüchen
steckte fast immer eine gehörige Portion Sexismus. Sergi war besonders schlimm.
Sie hatten noch nie einen guten Draht zueinander gehabt, und Sandra arbeitete
nicht gern mit ihm zusammen.
    Sie nutzte seine Abwesenheit, um ihre Spiegelreflexkamera samt
Stativ aus der Tasche zu nehmen, und befestigte die Schaumstofffüße daran, um
keine Spuren zu hinterlassen. Dann schraubte sie die Kamera so auf, dass das
Objektiv nach oben zeigte. Nachdem sie es mit einem in Ammoniak getränkten
Gazepad abgewischt hatte, damit es nicht beschlug, befestigte sie es an einem
Panoramakopf für 360°-Aufnahmen.
    Vom Allgemeinen zum Besonderen, lautete die Regel.
    Die Kamera würde den gesamten Tatort auf mehreren automatisch
ausgelösten Aufnahmen festhalten. Anschließend würde Sandra den Tathergang
durch immer detailliertere, von Hand geschossene Fotos dokumentieren. Dabei
würde sie die einzelnen Beweisstücke mit gleich großen durchnummerierten Karten
markieren, um späteren Betrachtern die chronologische Abfolge und die richtigen
Proportionen zu vermitteln.
    Sandra hatte die Kamera gerade in der Zimmermitte aufgebaut, als sie
auf einer Konsole ein Aquarium mit zwei kleinen Schildkröten entdeckte. Es zog
ihr das Herz zusammen. Sofort dachte sie an das Familienmitglied, das sich um
die Tiere kümmerte: Sie erhielten Futter aus der danebenstehenden Schachtel,
das nur wenige Zentimeter hohe Wasser, in dem sie schwammen, wurde in
regelmäßigen Abständen ausgetauscht, und ihr Lebensraum war mit Steinchen und
einer Plastikpalme geschmückt worden.
    Und das nicht von einem Erwachsenen!, dachte Sandra.
    In diesem Moment kam Sergio mit dem Schraubenzieher zurück und
machte sich erneut an dem mobilen Gasheizkörper zu schaffen. Innerhalb weniger
Sekunden hatte er ihn zum Laufen gebracht.
    »Wusst’ ich doch, dass ich dich kleinkriege!«, rief er.
    Das Bad war eng, und die Leiche füllte es beinahe komplett aus. Für
drei Personen war darin eigentlich kein Platz. »Wie wollen wir vorgehen?«, fragte
Sandra.
    »Ich werfe hier erst mal die Sauna an«, sagte Sergi und drehte den
Warmwasserhahn der Dusche bis zum Anschlag auf. Er wollte sie eindeutig
loswerden und schlug vor: »Du kannst ja schon mal mit der Küche anfangen. Dort
gibt es einen ›Zwilling‹ …«
    Tatorte wurden in primäre und in sekundäre Tatorte eingeteilt, um
den Ort des Verbrechens von den Orten zu unterscheiden, an denen nur Dinge
passiert waren, die damit zusammenhingen, wie zum Beispiel das Entsorgen einer
Leiche oder Tatwaffe.
    Als Sandra das Wort »Zwilling« hörte, begriff sie sofort, dass Sergi
einen weiteren primären Tatort meinte. Und das konnte nur eines bedeuten:
weitere Opfer. Ihre Gedanken eilten zurück zu den Schildkröten und dem
Weihnachtsbaum.
    Auf der Schwelle zur Küche erstarrte sie. Um nicht die Beherrschung
zu verlieren, musste sie sich in solchen Situationen genauestens an das
Handbuch für Polizeifotografen halten: knappe Anweisungen, die Ordnung ins
Chaos bringen sollten. So weit die Theorie.
    Simba der Löwe zwinkerte ihr zu, bevor er
mit den anderen Dschungelbewohnern ein Lied
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