Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schneesturm

Der Schneesturm

Titel: Der Schneesturm
Autoren: Vladimir Sorokin
Vom Netzwerk:
Vakzinen zwo, die die Leute da so bitter nötig hattenmit ihrer bolivianischen Pest. Und jetzt fielen ihm seine beiden Taschen ein und ob er die etwa bei dem unheiligen Schneemann hatte liegen lassen oder sie ergriffen beim Davonrennen, hab ich oder hab ich nicht?, er konnte sich nicht erinnern, aber nein, sagte er sich, wie könnte ich, die lässt man doch nicht einfach stehen und liegen … Er war sich nun sicher, die Taschen unter die Achseln geklemmt und mit ihnen das Weite gesucht zu haben durch den tiefen, tiefen Schnee, aber wenigstens schneit es nicht mehr, und überhaupt hat es zu tauen angefangen, taut zusehends, das Wäldchen liegt im hellen Sonnenschein, der weiße Birkenhain gleich neben der Nikolaikirche, dort wird die Trauung mit Irina sein, sie ist bestimmt schon da, und er geht zu ihr durch den sommerlichen Hain, es ist warm, ja geradezu heiß, ringsum sattes, sonnenüberflutetes Grün mit brummenden Hummeln dazwischen, selbst die Birken sind warm von der Sonne, er schiebt sich eine der Taschen unter die Achseln und fasst die Stämme an, genießt die Wärme, die Kirche ist von hier schon zu sehen, die vielen Kutschen davor, einer ist sogar mit dem Automobil gekommen, das wird Gorski sein, der Bankier, wer sonst käme noch auf die Idee, nun aber, während er frohgemut zwischen den Birken einhergeht, gerät der Boden unter seinen Füßen plötzlich in Bewegung, und er weiß es sofort: Das sind die Dolgojer – die, die sich mit der Pest angesteckt haben und zu Zombies geworden sind, sie haben sich eingegraben im sommerlich warmen, mürben Erdreich, haben alles unterhöhlt, und schuld ist er, denn er hat sie nicht geimpft, nun sind sie da, haben sich vorgegraben bis zu ihm, er will vor ihnen fliehen, läuft durch den Hain auf die Kirche zu, läuft, so schnell er kann, doch die Arme der Zombies stoßen aus der Erde, mit Händen, die wie Klauen sind, pes talpae, das Maulwurfssyndrom, sie stoßen durch das grüne Gras, greifen nach seinen Füßen, das tut weh, denn sie sind stark, die Krallen spitz, sie schlitzen seine neuen Lackschuhe auf, doch er kann sich ihnen entwinden, schafft es bis zur Kirche, alle sind schon drin, der Priester steht am Analogion, und da ist Irina im Brautkleid mit einer Kerze in der Hand, auch er kriegt eine in die Hand gedrückt, steht da mit nackten Füßen, und der Kirchfußboden ist heiß, sehr heiß, das kommt von der Erde darunter, die aufgeheizt ist von den wütend in ihr umgehenden Zombies, doch er fühlt sich wohl, wie er so dasteht, der heiße Marmorboden ist eine Wohltat für seine Sohlen, und er möchte dem Priester gar nicht folgen, der ihn auffordert, mit Irina nach vorne zu kommen, um das Analogion herum, denn er fühlt sich gerade so wohl, ein Gefühl, bei dem ihm die Tränen in die Augen schießen, er steht da und kann sich nicht rühren, und alle verstehen das, alle teilen die Freude mit ihm, alle fühlen sich gut, aber er fühlt sich am allerbesten, geradezu unverschämt gut, denn er liebt sie alle, wie sie in dieser Kirche stehen, liebt Irina, liebt den Priester, liebt die Verwandten und Freunde, selbst die Zombies liebt er, die unter der Kirche grummelnd ihr Unwesen treiben, er liebt sie alle, alle, alle, und da er seine Füße nicht losreißen kann von dieser erschütternden Wärme, kommen die anderen zu ihm, die Gäste alle und der Priester und der Protodiakon mit seinem röhrenden Bass und die anderen Sänger und Irina, alle kommen sie und gehen im Kreis um ihn herum, gehen und singen, und auch die Zombies drehen ihre Kreise unter dem Kirchboden und singen auch, ihr Gesang wird von der Erde geschluckt, doch die Erde fängt davon zu summen an, es klingt wie ein Volk von Erdbienen, sie summen den frommen alten Segenswunsch: »Vi-hi-hie-le Jahre! Vi-hi-hie-le Jahre!«,das tönt so inbrünstig und wonniglich, dass es einen in der Magengrube kitzelt, alles dreht sich, dreht sich um ihn, Garin, gleichwie um die Erdachse, und von all dem Summen und Wirbeln und Drehen wird ihm immer noch wohler, den Füßen noch wärmer …
    Als der Krächz merkte, dass der Doktor eingeschlafen war, rappelte er sich noch ein wenig zurecht, verteilte die Pferdchen noch ein bisschen um.
    Alle sind heile, alle drinne, so ging es ihm durch den Kopf. Auch wir, das Doktorchen und ich … So iss gut.
    Alles hatte seine Ordnung in der Kaube. Genug Platz für alle: den Doktor, den Krächz und die Pferdchen. Nur eins gab Anlass zur Sorge – der Spalt. Das Sperrholz war aus den Fugen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher