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Der Schatz von Franchard

Titel: Der Schatz von Franchard
Autoren: Robert Louis Stevenson
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der medizinischen Wissenschaften«, das vorläufig in der Hauptsache aus Zetteln und Klammern bestand. Später sollte es dann zahlreiche höchst persönliche Bände füllen und antiquarisches Interesse mit wissenschaftlicher Brauchbarkeit vereinen. Allein der Doktor liebte den literarischen Stil und das Pittoreske; eine Anekdote, eine Eigenart, ein moralischer Vorzug oder ein klingendes Epitheton wurden von ihm unfehlbar wissenschaftlichen Qualitäten vorgezogen; es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte die»Vergleichende Pharmacopoe‹ in Versen geschrieben. Der Artikel ›Mummia‹ war zum Beispiel schon ganz fertig, obwohl das übrige Werk bis über den Buchstaben ›A‹ nicht gediehen war. Das Ganze war äußerst umfangreich und amüsant, originell und lebendig geschrieben, exakt, gelehrt, eine literarische Abhandlung, hätte indes einem modernen praktischen Arzt wohl schwerlich als Leitfaden gedient. Mit weiblicher Einsicht und Vernunft hatte seine Frau sich denn auch hinreißen lassen, ihm unverblümt über diesen Punkt die Wahrheit zu sagen, denn selbstverständlich wurde ihr das Diktionär auf seinem endlosen Weg zur Vollendung Stufe für Stufe vorgelesen, während sie zwischen Schlafen und Wachen schwebte; ja, der Doktor war in Punkto Mumien ein wenig empfindlich, und pflegte auf Anspielungen in dieser Richtung mitunter sogar mit Heftigkeit zu reagieren.
    Nach dem Mittagessen und nach Ablauf einer angemessenen Verdauungsfrist ging er, mitunter allein, mitunter mit Jean-Marie spazieren, da Madame jede andere Art von Strapaze dieser vorzog.
    Sie war, wie gesagt, überaus geschäftig, unausgesetzt um ihr leibliches Wohl bemüht und stets bereit, wenn sie nichts zu tun hatte, über einem Romane einzuschlafen, was um so weniger störend wirkte, als sie niemals schnarchte oder während des Schlafes häßlich oder abgespannt aussah. Im Gegenteil, sie war das Bild üppigen, appetitlichen Behagens und pflegte, wenn sie dann plötzlich erwachte, sofort munter zu sein und alle fünf Sinne beisammen zu haben. Eigentlich war sie nicht viel mehr als ein Tier, aber ein liebes Tier, das mangern um sieh hatte. Darin hatte Sie wenig mit Jean-Marie gemein, trotzdem blieb die Sympathie, die am ersten Abend zwischen ihnen entsprungen war, ungeschwächt fortbestehen. Sie unterhielten sich auch dann und wann, meist über hauswirtschaftliche Fragen, und zogen sogar mitunter, zur bittersten Enttäuschung des Doktors, selbander in jenen Tempel entwürdigenden Aberglaubens: die Dorfkirche. Zweimal im Monat fuhren Madame und er, in ihren besten Sonntagskleidern, nach Fontainebleau, von wo sie mit Einkäufen beladen heimkehrten. Mit einem Wort, obwohl der Doktor fortfuhr, sie als zwei unversöhnlich antipathische Naturen zu betrachten, standen sie doch so freundschaftlich, intim und vertraut miteinander, wie ihre Charaktere es gestatteten.
    Zwar ist zu befürchten, daß Madame in ihrem tiefsten Herzen den Jungen auf ihre gutmütige Weise verachtete und bemitleidete. Sie hatte für seine Art von Vorzügen nichts übrig; ihr gefielen die aufgeweckten, höflichen, naseweisen, schelmischen Bürschchen, die, schnellfüßig, die Mütze in der Hand, ihr ohne Schüchternheit in die Augen sahen. Sie liebte Redseligkeit, Charme, ein wenig Laster – kurz einen zweiten Doktor Desprez en miniature. Außerdem war es ihr unerschütterlicher Glaube, daß Jean-Marie dumm sei. »Armer lieber Junge,« sagte sie bei einer Gelegenheit, »wie traurig, daß er so dumm ist.« Sie wiederholte diese Bemerkung jedoch niemals, denn Dr. Desprez tobte wie ein wilder Stier, warf ihr die viehische Stumpfheit ihres Gehirns vor, bejammerte sein Los, das ihn so ungleich mit einer Eselin gepaart hatte,und drohte, was Anastasie vor allem naheging, durch feine wütenden Gestikulationen das Tafelservice zu zerschmettern. Sie hielt jedoch im Stillen an ihrer Ansicht fest, und wenn Jean-Marie in stoischer, gedankenloser Ruhe, ohne jedoch unglücklich zu sein, über seinen unvollendeten Aufgaben brütete, benutzte sie die Abwesenheit des Doktors, um zu ihm hinzugehen, die Arme um seinen Hals zu legen, ihre Wange an die seine zu lehnen und ihm ihr Mitgefühl für seine Nöte zu bezeigen. »Nimm es dir nicht zu Herzen,« pflegte sie zu sagen, »auch ich bin gar nicht klug, und du kannst mir glauben, es macht im Leben nichts aus.« Der Doktor war natürlich ganz anderer Ansicht. Dieser liebenswürdige Herr ward es nie müde, sich selbst reden zu hören, und er hatte ja in der
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