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Der Rote Mond Von Kaikoura

Der Rote Mond Von Kaikoura

Titel: Der Rote Mond Von Kaikoura
Autoren: Anne Laureen
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zu sich kam, sah er Lillian ein wenig seltsam an. »Sie werden uns für verrückt halten, oder?«
    Lillian lächelte breit. Als Schulkind hatte es sie manchmal gestört, dass ihre Mitschülerinnen ihren Großvater, den einzigen Menschen, der ihr noch geblieben war, für seltsam gehalten hatten. Doch mit der Zeit und ihrem wachsenden Verständnis für die Sternkunde hatte sich das geändert. »Vermutlich ja. Immerhin wird auch hier nicht jeden Tag irgendwer auf die Idee kommen, eine Sternwarte zu errichten. Die besten Ideen klingen am Anfang immer ein wenig verrückt, bis die Leute schließlich den Nutzen begriffen haben.«
    Ihr Großvater sagte nichts dazu. Er streckte einfach nur die Hand aus und strich ihr lächelnd über das im Nacken zu einem Zopf gebundene schwarze Haar.
    Als die Abendsonne die Wolken über ihnen rot färbte, schlugen sie ein kleines Lager an einer windgeschützten Stelle auf. Lillian, die noch nie unter freiem Himmel übernachtet hatte, überkamen plötzlich Zweifel, ob das das Richtige wäre, zumal der Kutscher irgendwas von Wetas gebrabbelt hatte, riesenhaften Insekten, die es hier zuhauf geben sollte.
    Ihr Großvater bemerkte natürlich, dass sie mit einem gewissen Unwohlsein den Boden betrachtete. »Keine Sorge, mein Kind«, sagte er lachend. »Hier hast du nichts zu befürchten. Schlangen gibt es keine in Neuseeland, und weder die Weta noch ein Kiwi könnte dir gefährlich werden.«
    »Es geht nicht darum, ob sie gefährlich werden könnten«, entgegnete Lillian, während sie versuchte, gegen ihr Unwohlsein anzukämpfen. »Ich möchte nur keines von ihnen unter meiner Decke haben.«
    »Dann nimm den Schlafsack!« Georg reichte seiner Enkelin das zusammengerollte Bündel, das neben seinem Seesack lag.
    »Hast du eigentlich schon mal eine Weta gesehen?«, fragte Lillian, während sie ihren Blick über den Boden gleiten ließ. Im dichten Gras konnte sie nichts erkennen, aber vielleicht lebten diese Weta ja im Boden?
    »Natürlich habe ich das«, antwortete Georg. »Und nicht nur einmal. Es sind recht hässliche kleine Tierchen, aber sehr fruchtbar. Die Maori haben sie nach dem Gott der Hässlichkeit benannt.«
    »Und welchen Nutzen haben sie?«
    »Sie dienen anderen Tieren als Futter. Und sie sorgen dafür, dass der Boden dieses Landes fruchtbar ist. Man kann sie sogar essen, sie sind sehr nahrhaft.«
    Obwohl sie sich bemühte, vielen Dingen offen gegenüberzustehen, musste sich Lillian bei diesem Gedanken unwillkürlich schütteln. »Ich hoffe sehr, wir kommen nie in die Verlegenheit, eines dieser Tiere essen zu müssen.«
    Bei diesen Worten wurde ihr Großvater plötzlich ernst. Sein Blick schweifte in die Ferne, dann murmelte er: »Manchmal sind wir gezwungen, Dinge zu tun, die wir nicht tun wollen. Aber irgendwie überleben wir es.«
    Was er damit wohl meinte? Der ernste Blick ihres Großvaters hielt sie davon ab, weiter nachzufragen. Also rollte sie ihren Schlafsack aus und schlüpfte hinein. Trotz der Unterlage schienen ihr die Grasbüschel und ein paar kleine Steinchen in den Rücken zu stechen.
    Nun sei keine Prinzessin auf der Erbse, ermahnte sie sich selbst. Diese eine Nacht wirst du es schon aushalten.
    »Gute Nacht, Großvater!«, rief sie also und zog sich den Schlafsack bis zum Kinn.
    Während schon bald Georgs leises Schnarchen ertönte, blickte Lillian zu den Sternen auf. Als sie zum ersten Mal den südlichen Sternenhimmel zu Gesicht bekommen hatte, hatte sie ihn für ziemlich leer gehalten, weil die vertrauten Bilder fehlten, von denen sie beinahe jeden Stern benennen konnte. Doch wenn sie jetzt so nach oben sah und die andere Hälfte der Milchstraße betrachtete, fiel ihr auf, dass der südliche Himmel keineswegs leer war. Natürlich dominierte das Kreuz des Südens mit seinen vier Hauptsternen, wohl die hellsten, die die Welt je gesehen hatte. Doch zwischen den wenigen bereits benannten Sternbildern befanden sich noch zahlreiche andere Sterne, die deutlicher wurden, je länger sie in den Himmel sah.
    Versonnen lächelte Lillian in sich hinein. Würde es je möglich sein, sich die Sterne aus der Nähe anzusehen? Oder zu sehen, was hinter dem dunklen Vorhang war?
    Fast hatte sie schon die Stimme von Adeles streng religiösem Vater im Ohr, der ihr predigte, dass es Sünde sei, über den Himmel hinausblicken zu wollen. Bevor sie allerdings wieder daran zurückdenken konnte, mit welcher Vorsicht sie gegenüber Adeles Eltern stets vom Beruf ihres Großvaters und ihren eigenen
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