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Der Puppenfänger (German Edition)

Der Puppenfänger (German Edition)

Titel: Der Puppenfänger (German Edition)
Autoren: Joana Brouwer
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feucht-klebrigen Verletzung an der Oberlippe und einer anderen am Hinterkopf – bisher leider nichts eingebracht. Mittlerweile waren die blutigen Schandmale seiner Machtlosigkeit mit schorfigen Krusten überzogen. Sobald er sie behutsam mit den Fingern seiner gebundenen Hände ertastete, erinnerten sie ihn daran, dass seine Kidnapper gnadenlos ihre Waffe einsetzten und keinerlei Skrupel kannten, einen gefesselten wehrlosen Mann bewusstlos zu schlagen.
    Irgendwann – es musste gestern früh gewesen sein – war er aus seiner Ohnmacht aufgewacht. Er hatte eine gefüllte Wasserflasche zwischen seinen Oberschenkeln vorgefunden, die er mit seinen gebundenen Händen gut fassen konnte. Schöllen, der es gewohnt war, viel und hastig zu trinken, hatte den Verschluss geöffnet und die Flasche in einem Zug geleert. Erst als seine Blase ihn drückte und er sich nicht länger zurückhalten konnte, war ihm klar geworden, dass er nicht wusste, wann man ihm erlauben würde, eine Toilette aufzusuchen. Auch wusste er nicht, wie lange er warten musste, bis jemand kam, um ihm erneut zu trinken zu geben.
    Jetzt verfluchte er seine Unbeherrschtheit und schämte sich beim Anblick der leeren Flasche und seiner klitschnassen Hose. Jeder Muskel an seinem Körper schmerzte. Er hatte Kopfweh und verspürte einen brennenden, quälenden Durst. Beides erinnerte ihn an die unzähligen Saufabende, die er mit allen Sinnen genossen hatte, und an das darauffolgende Aufwachen, das er mit der gleichen Leidenschaft gehasst hatte. Ab und an fuhr er mit der Zunge über seine Lippen, die sich spröde und rissig anfühlten. Egal, wie lange er warten musste, bis man ihm etwas gegen seinen unerträglichen Durst bringen würde, er wollte sich die Flüssigkeit gewissenhaft einteilen, sie in winzig kleinen Schlücken zu sich nehmen und jeden einzelnen Tropfen auskosten.
    Wenn er den Kopf hob, blickte er auf ein altertümliches Bettgestell aus Metall. Daneben stand ein rechteckiger Tisch, davor zwei Stühle. Auf einem von ihnen hatte ein geschlechtsloses, vermummtes Wesen, das wahrscheinlich eine klitzekleine Rolle in dem großen Drama seiner Entführung spielte, einen Laptop platziert. Aus dem Gerät klang – in einer nicht endenden Dauerschleife – eine einzige Melodie, die Gerald mit ihrem immer wiederkehrenden Takt fast in den Wahnsinn trieb. Das TAM Ta Ta Ta, Tam Ta Ta Ta Tam Ta TAM Ta Ta Ta … hinderte ihn am Denken, geisterte durch seine Wachträume und durch seinen Schlaf.
    Er wollte leben, sein hart verdientes Geld ausgeben, Ende Mai in die Karibik fliegen, im Herbst in Südafrika auf Fotosafari gehen und zum Jahreswechsel den Schnee genießen. Deswegen musste er die Nerven behalten und ruhig abwarten. Wenn es ums Ganze ging, kam die Zeit des Pokerns. Auch Entführer waren Menschen. Was sie wollten, war nichts Ungewöhnliches. Sie wollten Scheine! Sogar seine Töchter, fast noch Wickelkinder, bettelten ständig um irgendeinen Plastikkitsch, den er bezahlen musste.
    Es war wichtig, den Verbrechern klarzumachen, dass sie sich den Falschen gegriffen hatten. ›Vielleicht eine Verwechslung, meine Herren? Solche Dinge passieren. Sieht man ständig im Kino. Dafür habe ich Verständnis‹, würde er sagen, sobald sie zurückkamen. Sicherlich hatte seine Frau bereits die Polizei verständigt. Er war kein Hanswurst, kein Herr Irgendwer! Man würde ihn nicht in diesem Drecksloch verrecken lassen! Man würde ihn suchen. Deswegen durfte er seinen Kidnappern auf gar keinen Fall ein finanzielles Angebot unterbreiten. Klein beigeben war die letzte, wirklich die allerletzte Möglichkeit. Freiwillig wollte er diesen Schweinen nicht einen Euro rüberschieben, keinen einzigen Cent! Er würde ihnen begreiflich machen, dass er sich nicht imstande sah, ein Lösegeld zu bezahlen.
    ›Ich gehöre – verdammt noch mal – zu der hart arbeitenden Bevölkerung‹, wollte er sagen, ›und nicht zu den oberen Zehntausend. Mein Haus ist mit einer stattlichen Hypothek belastet, die Firma ebenfalls nicht schuldenfrei. Ich habe Verpflichtungen, zahle Gehälter in beachtlicher Höhe, Miete für die Studios, Leasingraten für den Fuhrpark, für meine Karre, für das Auto meiner anspruchsvollen Ehefrau.‹
    Als das Geräusch gleichmäßiger Schritte und das Quietschen eines Schlüssels in einem angerosteten Schloss zu ihm drangen, fuhr er zusammen. Freude, Erleichterung und ängstliche Erwartung ließen sein Herz schneller schlagen. Er zwang sich, ruhig durchzuatmen, und richtete
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