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Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)

Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)

Titel: Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
Autoren: Karin Fossum
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der gegen die Wohnzimmerwände schlägt, wenn Wind aufkommt. Ab und zu eine Maus, die über den Dachboden läuft. Das Haus ist äußerst spartanisch. Die Zimmer sind klein und warm, die Möbel schlicht und sorgfältig ausgesucht, Farben und Muster passen zusammen. Es gibt wenig Ziergegenstände, sie verschwendet ihr Geld nicht, sie hat keinen Sinn für Kitsch.
    Charlo geht die Treppe hoch. Harriet holt tief Luft und berührt mit dem Kugelschreiber das Papier, schreibt »Lieber«. Ein Armreif aus Gold am rechten Handgelenk klimpert auf der Schreibtischplatte. Der Brief nimmt in ihrem Kopf langsam Form an, in Gedanken hört sie ihre eigene Stimme, die klingt entschieden und plätschert leicht und locker dahin, aber ihre Hand ist viel langsamer. Mitten in diesem ruhigen Moment wird sie von der Türklingel gestört. Von einem plötzlichen wütenden Ton in der Stille. Überrascht hebt sie den Kopf und horcht, schaut automatisch zur Wanduhr hinüber, als könne die Uhr ihr verraten, wer da zu ihr will. Fünf Minuten nach zehn. Das ist viel zu spät für Vertreter, es ist zu spät für ihre Freundin Mosse von nebenan, nie im Leben würde die um zehn Uhr abends vor der Tür stehen. Wenn nicht irgendwas vollkommen Ungewöhnliches passiert wäre. Ist das so, überlegt sie, passiert jetzt etwas? Aber dann denkt Harriet, daß Mosse angerufen hätte, sie ist rücksichtsvoll, und sie sind beide alt. Aber die Türklingel geht, und Harriet bleibt in ihrem Sessel sitzen und hat den Kugelschreiber in der Hand, sie ist handlungsunfähig. Sie starrt dieses eine Wort an: »Lieber«. Die Sicherheitskette, denkt sie, die habe ich jedenfalls vorgelegt. Aber jetzt ist es still, sie ist unsicher. Es können doch spielende Kinder sein, die sich über den Schneeregen freuen und auf Abenteuerjagd durch die Straßen rennen. Aufzustehen, durch das Wohnzimmer und dann zur Tür zu gehen, ist eine Anstrengung für sie, sie steht nicht auf, wenn es nicht unbedingt sein muß. Aber jetzt klingelt es wieder, zweimal. Wer immer dort wartet, will sich nicht geschlagen geben. Es ist dumm, nicht zu öffnen, überlegt sie, sie ist doch ein erwachsener Mensch. Vielleicht ist es jemand vom Roten Kreuz, die rennen den Leuten doch immer die Türen ein. Sie hat sich jetzt erhoben, mühsam, sie geht mit kurzen unsicheren Schritten durch das Zimmer. Wieder bemerkt sie das Korn, das zwischen ihren Zähnen festsitzt. Dann steht sie in der Diele. Durch das Glas in der Tür sieht sie eine Gestalt, die auf der obersten Treppenstufe steht. Einen schwarzen, kompakten Schatten. Erneut zögert sie. Wer kommt so spät noch? Sie kennt fast niemanden. Zuerst dreht sie den Schlüssel um, dann öffnet sie vorsichtig die Tür, so weit wie die Kette das zuläßt. Sie sieht einen Mann in einem grünen Parka. Er tritt ein wenig beiseite, so daß sie ihn durch den Türspalt sehen kann. Kommt er ihr nicht bekannt vor? Sie überlegt, kann ihn aber im Gewimmel von Gesichtern in ihrem Kopf nicht finden. Er hält ein Paket vor seine Brust. Das mit dem Paket versteht sie nicht. Sie bleibt im Türspalt stehen und starrt ihn an, während sie auf eine Erklärung wartet. Sie selbst ist sich dessen nicht bewußt, aber ihr mageres Gesicht sieht unfreundlich und überaus mißtrauisch aus.
    »Harriet Krohn?« fragt der Mann.
    Seine Stimme ist freundlich und munter, als freue er sich über die weißen Schneeflocken, diese plötzliche Weihnachtsstimmung Anfang November.
    »Ja?« fragt sie und starrt das Paket an, das wenige, das sie durch den Türspalt sehen kann. Es ist so groß, so unendlich weiß.
    »Ich habe Blumen für Sie«, sagt er mit breitem Lächeln. Harriet ist verdutzt. Sie hat erst in einem Monat Geburtstag, und auch dann schickt ihr nie jemand Blumen.
    »Das muß ein Irrtum sein«, stammelt sie, immer noch verunsichert. Hat sie denn in ihrem ganzen Leben schon mal Blumen ins Haus gebracht bekommen? Ihres Wissens nicht. Das allein ist schon verdächtig. Aber die Blumen scheinen ihr durch das weiße Papier etwas zuflüstern zu wollen. Stell dir vor, Blumen. Ist das möglich? Kann sie etwas vergessen haben? Sie überprüft noch einmal den Tag, der hinter ihr liegt, findet aber nichts. Der Mann wartet geduldig auf der Treppe, Schnee fällt auf seine Schultern. Im Licht der Lampe über seinem Kopf sieht sie die feuchten Flecken.
    »Ich weiß nicht, von wem sie sind«, sagt er. »Aber sie sind jedenfalls für Sie. Ich weiß, daß ich spät dran bin«, fügt er hinzu, »aber ich hatte heute so
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