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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten
Autoren: Katherine Pancol
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Moment kam, in dem sie das Gedicht von Clément Marot vorlesen sollte, begann sie mit einer Stimme, die zu ihrem großen Verdruss zitterte:
    »Der ich einst war, ich bin’s nicht mehr …«
    Sie hüstelte, rang um Fassung. Und fuhr tapfer fort:
    »Der ich einst war, ich bin’s nicht mehr
    und nimmer werd ich’s wieder sein.
    Durchs Fenster schwand von ungefähr
    die Blumenzeit, der Sommer mein.
    Als Herrin fandst du, Liebe, her,
    dir dient’ vor andren ich allein,
    würd’, wenn ich neu geboren wär,
    getreuer noch zu Diensten sein.«
    Und beim Gedanken, dass Iris sich aus diesem Sarg erheben, sich zu ihnen setzen, ein Glas Champagner verlangen, grobe Stiefel anziehen und sie mit einem fuchsienroten Top von Christian Lacroix kombinieren könnte, brach sie in Tränen aus. Sie weinte, zornig, aufrecht stehend, die Arme nach vorn gestreckt, als versuchte sie, den Tränenstrom abzuwehren, der sie überwältigte. Das ist doch ihre Schuld! Diese makabre Inszenierung! Wir stehen hier wie die Idioten in einer düsteren Krypta, heulen, jammern rum, sagen Gedichte auf und hören Mozart. Und jetzt guckt der mich auch noch mit seiner mitfühlenden, trotteligen Visage an! O nein! Nicht das auch noch! Das macht er jetzt nicht! Er kommt jetzt nicht her und …
    Und sie warf sich in Garys Arme, der sie umarmte, als hielte er einen Blumenstrauß, das Kinn auf ihren Kopf legte, sie ganz fest an sich drückte und sagte: »Nicht weinen, Hortense, nicht weinen.« Und je länger er sie in seinen Armen hielt, umso stärker wurde der Drang zu weinen, aber es waren seltsame Tränen, sie hatten nichts mehr mit Clément Marots Tränen zu tun, sie vergoss sie um etwas anderes, das sie nicht so recht kannte, aber das sanfter war, fröhlicher, Tränen wie eine Art Glück, Erleichterung, wie eine große Freude, die ihr Herz erfasste und sie gleichzeitig lachen und weinen ließ, als wäre es zu groß, zu unbestimmt, zu ungreifbar, ein Trost, den sie mit den Fingerspitzen erhaschte. Er war da und doch nicht da, sie hielt ihn, und sie hielt ihn nicht, eine Versöhnung vor einer erneuten Trennung vielleicht, sie wusste es nicht. Am liebsten hätte sie nie wieder aufgehört zu weinen.
    Ach was, Scheibenkleister! Sie würde später darüber nachdenken, wenn sie dieses ganze Heulen, diese in Taschentüchern erstickten Selbstvorwürfe, diese geröteten Nasen und diese schlecht gekämmten Haare endlich hinter sich hatten. Sie riss sich zusammen, schniefte und ärgerte sich, dass sie sich ausgerechnet in den Armen von Gary, diesem Verräter in Diensten von Charlotte Bradsburry, hatte gehen lassen! Sie riss sich von ihm los, setzte sich neben ihre Mutter und packte sie energisch beim Arm, um Gary zu verstehen zu geben, dass das zärtliche Intermezzo beendet war.
    Man sagte ihnen, dass der Leichnam nun eingeäschert werden würde und sie draußen warten könnten. In ordentlichen Reihen gingen sie hinaus. Joséphine umklammerte die Hände ihrer Töchter, Philippe hielt die von Alexandre. Henriette ging allein und mied sorgsam Carmen, die ein wenig zurückblieb. Shirley und Gary bildeten den Abschluss.
    Philippe hatte beschlossen, Iris’ Asche vor ihrem Haus in Deauville im Meer zu verstreuen. Alexandre war damit einverstanden. Joséphine ebenfalls. Er informierte Henriette über seine Entscheidung, die darauf lediglich erwiderte: »Die Seele meiner Tochter ruht nicht in einer Urne. Macht, was ihr wollt. Ich jedenfalls gehe jetzt nach Hause … Ich habe hier nichts mehr zu tun.« Sie verabschiedete sich und ging. Carmen folgte ihr, nachdem sie noch einmal in Philippes Armen geweint und dieser ihr versprochen hatte, sich auch weiterhin um sie zu kümmern. Sie umarmte Joséphine und ging wie ein verzweifelter Schatten über die baumbestandenen Friedhofswege davon.
    Shirley und Gary beschlossen, einige Gräber zu besuchen. Gary wollte die letzten Ruhestätten von Oscar Wilde und Chopin sehen. Sie nahmen Hortense, Zoé und Alexandre mit.
    Philippe und Joséphine blieben allein zurück. Sie setzten sich auf eine Bank in die Sonne. Philippe hatte Joséphines Hand genommen und streichelte sie zärtlich.
    »Weine ruhig, Liebes, weine nur. Aber weine um ihr Leben, denn jetzt hat sie ihren Frieden gefunden.«
    »Ich weiß. Aber es wird noch lange dauern, bis ich realisiert habe, dass ich sie nie wiedersehen werde. Ich habe immer das Gefühl, als würde sie gleich irgendwo auftauchen und sich über uns und unsere traurigen Gesichter lustig machen.«
    Eine ältere
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