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Der kurze Sommer der Anarchie

Der kurze Sommer der Anarchie

Titel: Der kurze Sommer der Anarchie
Autoren: Unbekannter Autor
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schäbige Büros in der argentinischen Hauptstadt, Scheunen in der Gascogne.
Im französischen Exil zieht der Möbeltischler Florentino Monroy mit seinen fünfundsiebenzig Jahren von einem Schloß zum andern. Er hat keine Altersversorgung. Er lebt davon, daß er den altersschwachen Aristokraten der Gegend ihre eingelegten Schränke zusammenflickt.
Hinter einer Drogerie in dem verschlafenen Pariser Vorort Choisy-le-Roi, im Hinterhof der Rue Chevreuil Nr. 6, haben die spanischen Anarchisten sich eine kleine Druckerei eingerichtet. Dort drucken sie Kinoplakate für die Marktflecken des Departements und Einladungen zum Maskenball, aber auch ihre eigenen Zeitschriften und Broschüren.
Irgendwo in Lateinamerika arbeitet Diego Abad de Santillán, einst einer der mächtigsten Männer Kataloniens, dann ein erbitterter Kritiker der CNT aus den eigenen Reihen, in einem kleinen Verlag: ein hilfsbereiter, gelassener Mann, der seine Pfeife nicht ausgehen laßt.
Ricardo Sanz, Textilarbeiter aus Valencia, einer der alten Solidarios, lebt von zweihundert Mark Rente ganz allein in einem düsteren Bauernhaus an der Garonne; vor über dreißig Jahren hat er ab Nachfolger Durrutis eine Division der anarchistischen Milizen kommandiert. Wer ihn besucht, dem zeigt er die Reliquien der Revolution: die Totenmaske Durrutis, die Fotos in der Kommode, den Wandschrank, gefüllt mit Exemplaren seiner Bücher, die er in Selbstverlag herausgegeben hat. Die meisten aber sind gestorben. Gregorio Jover soll noch am Leben sein, irgendwo in Mittelamerika. Andere sind verschollen.
In einem alten Fabrikhof in Toulouse ist das Hauptquartier der CNT im Exil zu finden. Über zwei ausgetretene Treppen erreicht man das »Interkontinentale Sekretariat«. Neben einer kleinen Buchhandlung, in der man seltene Broschüren aus den dreißiger und vierziger Jahren und die kurioserbaulichen Romane der »Biblioteca Ideal« finden kann, hat sich Federica Montseny ihr Büro eingerichtet, in dem sie unermüdlich wie vor Jahrzehnten an ihren Reden und Leitartikeln feilt.
Es ist eine Welt für sich, geographisch weit verstreut und doch eng; eine Welt mit ihren eigenen ungeschriebenen Regeln, ihrem Code von Vorlieben und Abneigungen, in der jeder vom andern weiß, auch wenn er ihn jahrelang nicht mehr gesehen hat. Diese Welt der alten Genossen ist nicht verschont geblieben von Frustration und Eifersucht, Zwist und Entfremdung, den Stigmata aller Emigrationen. Das Durchschnittsalter ist hoch; die Gerüchte und Nachrichten haben leichtes Spiel und halten sich zäh; die Erinnerung hat sich längst verfestigt; jeder hat seine Rolle in den entscheidenden Jahren auswendig gelernt; der Starrsinn und die Gedächtnislücken des Greisenalters treiben ihren Tribut ein. Aber ihre aufrechte Haltung hat diese besiegte und altgewordene Revolution nicht eingebüßt. Der spanische Anarchismus, für den diese Männer und Frauen ihr Leben lang gekämpft haben, ist nie eine Sekte am Rand der Gesellschaft, eine intellektuelle Mode, ein bürgerliches Spiel mit dem Feuer gewesen. Er war eine proletarische Massenbewegung. Weniger als Manifeste und Losungen vermuten lassen, hat er mit dem Neo-Anarchismus heutiger studentischer Gruppen zu tun. Mit gemischten Gefühlen sehen diese Achtzigjährigen der Renaissance zu, die ihre Ideen im Pariser Mai und anderswo erlebt haben. Fast alle haben sie ihr Leben lang mit ihren Händen gearbeitet. Viele von ihnen gehen heute noch jeden Tag auf ihre Baustelle, in ihre Fabrik. Meist arbeiten sie in kleineren Betrieben. Mit einem gewissen Stolz stellen sie fest, daß sie auf niemanden angewiesen sind, daß sie sich ihr Brot immer noch selbst verdienen; jeder von ihnen ist ein Könner in seinem Fach. Die Parolen von der »Freizeitgesellschaft«, die Utopien des Müßigganges sind ihnen fremd. In ihren kleinen Wohnungen gibt es nichts Überflüssiges; Verschwendung und Warenfetischismus sind ihnen unbekannt. Nur der Gebrauchswert zählt. Sie leben in einer Kargheit, die sie nicht bedrückt. Stillschweigend, ohne Polemik, ignorieren sie die Normen des Konsums.
Das Verhältnis der Jüngeren zur Kultur ist ihnen unheimlich. Den Hohn der Situationisten auf alles, was nach »Bildung« schmeckt, begreifen sie nicht. Für diese alten Arbeiter ist Kultur etwas Gutes. Das ist kein Wunder, denn für die Eroberung des Alphabets haben sie mit Blut und Schweiß bezahlt. In ihren kleinen, dunklen Zimmern stehen keine Fernsehgeräte, sondern Bücher. Kunst und Wissenschaft, seien sie
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