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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition)
Autoren: Manuela Reizel
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Jetzt machte er genau das, was er bei seinen Klienten immer rügte: Er erwartete, dass seine Mitmenschen andere Dinge zurückstellten, um ihm ohne Zeitverzug zu Hilfe zu eilen. Und das auch noch, um seine eigene Bequemlichkeit zu unterstützen! Natürlich hätte er bereits am Morgen, vor seinem Neun-Uhr-Termin versuchen müssen, einen Handwerker zu erreichen und nicht erst jetzt, kurz vor zwölf. Doch er war von Haus aus kein Frühaufsteher und hatte seine Chance für den heutigen Tag verpasst.
    „Nicht vor morgen Nachmittag? Wann … circa fünfzehn Uhr? In Ordnung, ich werde da sein.“
    Er gab seine Adresse durch und legte den Hörer auf. Dann besah er sich seinen Terminkalender. Dienstag, fünfzehn Uhr, war Jürgen Roth eingetragen – seltsame Ironie des Schicksals. Aber vielleicht war es ganz gut so. Das würde beiden Seiten etwas Zeit zum Nachdenken geben. Vom analytischen Standpunkt aus betrachtet war es natürlich nicht unproblematisch, wenn er diesen Termin jetzt verlegte – nun gut, es ließ sich nicht ändern. Er wählte Jürgen Roths Nummer und hinterließ, da sich niemand meldete, eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Danach ging er die Termine durch, die aktuell noch anstanden. Als Erster würde nach der Mittagspause Lukas Stegmann kommen. Gustav Elvert ertappte sich dabei, dass sich seine Stimmung schlagartig aufhellte. Auch wenn er es sich nicht eingestand, denn er hielt absolut nichts von Bevorzugungen in der therapeutischen Beziehung, war Lukas in den letzten Monaten sein Lieblingsklient geworden. Er schätzte seine ruhige Art, und sein messerscharfer Verstand machte jede Therapiestunde zur intellektuellen Herausforderung.
    Auf dem Sechzehn-Uhr-Termin war ein Name eingetragen, mit dem er im ersten Moment nichts verband. Thomas Lamprecht … Elvert dachte kurz nach. Richtig. David Reich von der Bewährungshilfe hatte angerufen, es war bereits zwei Wochen her. Er holte die paar Notizen aus der Schreibtischschublade, die er sich während des Gesprächs damals gemacht hatte und verließ um kurz vor halb eins die Praxis.
    Es war höchste Zeit für ein saftiges Steak.
    Als Gustav Elvert um Viertel vor drei zurückkehrte, sah die Welt schon wieder wesentlich rosiger aus. Nach einem üppigen Mittagessen in seinem Stammrestaurant am Wallgraben fühlte er sich physisch und psychisch gestärkt, um dem Nachmittag die Stirn zu bieten. Sowieso war er jeden Tag froh, wenn der leidige Vormittag hinter ihm lag – ganz besonders montags! – und das hatte absolut nichts mit seinen Klienten zu tun, denn er liebte seinen Beruf. Zum wiederholten Mal fragte er sich, ob sich hier nicht eine blande Form der Depression manifestierte, bei Gelegenheit würde er diesen Punkt mit Karin Kutscher klären müssen.
    Er stellte den Öffner für die Eingangstür um, schob die Tür des Behandlungsraumes so weit als möglich zu, schaltete den Computer ein und vertiefte sich in die Protokolle der vergangenen Stunden mit Lukas Stegmann.
    Luke Skywalker
, wie er sich in Chatrooms und von seinen Freunden nennen ließ, war nun bereits seit fast einem Jahr bei ihm in Behandlung. Die dramatische Vorgeschichte hatte Elvert bruchstückweise nach und nach erfahren. Der Vater hatte die instabile Mutter, vermutlich Borderlinerin, während der Schwangerschaft verlassen. Eine teils chaotische Kindheit erzwungener Odysseen durch verschiedene Länder war gefolgt, deren prägende Erlebnisse noch immer größtenteils im Dunkeln lagen. Überlebt hatte Lukas dadurch, dass er sich früh in eigene Welten zurückzog, die ihm erhebliches kreatives Potenzial, jedoch auch ernstzunehmende soziale Schwierigkeiten einbrachten. Kulminationspunkt seiner Entwicklung war der frühe und plötzliche Tod seiner Mutter gewesen, ein weiteres einschneidendes Ereignis in Lukas’ bewegter Biographie, über dessen nähere Umstände Elvert bislang nur spekulieren konnte. Die fünf Jahre, die zwischen diesem Zeitpunkt und Lukas’ Erscheinen in Elverts Praxis lagen, konnte man getrost als suizidalen Langzeitselbstversuch bezeichnen. Die Entscheidung, sich schließlich doch einem Therapeuten anzuvertrauen, hatte jedoch weniger damit im Zusammenhang gestanden als mit seinem Gefühl der Unfähigkeit, sich sozialen Kontakten auszusetzen, wie es die Aufnahme eines Studiums, einer Ausbildung oder wie auch immer gearteten Erwerbstätigkeit erfordert hätte. Seither versuchte Elvert, sich im Dickicht von Lukas’ teils widersprüchlicher Symptomatik und der Polarität seiner
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