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Der König von Havanna

Der König von Havanna

Titel: Der König von Havanna
Autoren: Pedro Juan Gutiérrez
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weiter. Rey kaufte sich eine Empanada. Bedächtig kaute er. Für etwas zu trinken reichte es nicht mehr. Er legte die restlichen Münzen auf den Tresen.
    »Geben Sie mir etwas zu trinken.«
    »Nein, das macht einen Peso, und was du da hast, sind nur zwanzig Centavos. Los, hau ab. Das hab ich dir schon einmal gesagt.«
    »Geben Sie mir etwas Wasser.«
    »Ich habe kein Wasser. Verschwinde jetzt, hörst du nicht?«
    Er trat wieder etwas zurück und bettelte weiter. Niemand gab ihm mehr eine Münze. Die Sonne stand jetzt hoch. Gegenüber entdeckte er eine Bar-Cafeteria. Dort gab es Brot mit Fleischkroketten, Erfrischungsgetränke, Rum, Zigarren. Er setzte sich auf die Bordsteinkante und wartete ab, was passierte. Kurz darauf kamen zwei Bettler und inspizierten den Müllcontainer neben der Bar. Sie wühlten darin herum, durchsuchten ihn bis auf den Grund. Mit leeren Händen zogen sie ab. In dem schmalen Gang zwischen der Bar und dem angrenzenden Gebäude leerte einer der Angestellten Reste in einen Eimer für die Schweine. Es stank nach vergammeltem Essen. Aus dem ekligen Brei stachen ein paar Brotstücke, Fleischreste und Mangoschalen hervor. Er holte sich alles, ging zurück auf die Straße und verschlang den Schweinkram. Ein Junge sah das und rief dem Barkeeper zu: »Onkel, sieh nur, da klaut einer die Reste für die Schweine.« Der Mann hinter dem Tresen rief ihm daraufhin zu: »He, verschwinde, mach, dass du wegkommst. Lass dich hier nicht wieder blicken!« Ungeachtet des Geschreis lächelte Rey ihn an und bat ihn um ein Glas Wasser. »Hier gibt’s weder Wasser noch sonst was. Ich habe gesagt, du sollst verschwinden, sonst rufe ich die Polizei.«
    Rey entfernte sich eilig in Richtung Hafenmolen. Er kauerte sich in eine Ecke und sah zum Anleger von der Fähre Havanna-Regla. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein weiter Platz mit der Kirche Virgen de Regla. Er wusste nichts über Kirchen und Religion. Weder seine Mutter noch seine Großmutter oder sonst jemand hatte mit ihm je über solche Dinge gesprochen. In der Nachbarschaft trugen viele Leute Halsbänder, es gab Trommeln und Altäre. Das alles hatte er von Kindheit an mitbekommen, aber es hatte nichts mit ihm zu tun. Warum taten die Leute all solche Dinge? Sie gingen in Kirchen rein und wieder raus. Was sie wohl darin taten? Er setzte sich auf die Mauer. Sein Leben verstrich immer langsam. Stundenlanges Warten, ohne irgendwas zu tun. Tage, Wochen, Monate. So verging die Zeit nach und nach. Zum Glück dachte er nicht viel. Eigentlich dachte er fast nichts. Er saß da und beobachtete seine Umgebung, vor allem die Frauen. In aller Ruhe. Es gab nichts, woran er denken konnte.
    Ein paar alte Säufer kamen den Bürgersteig hinuntergetorkelt und ließen eine Flasche Rum kreisen. Sie waren sehr mager, schmutzig, bärtig, nur mit ein paar Lumpen bekleidet, aber sehr aufgekratzt, alle drei redeten sie gleichzeitig, einer nahm dem anderen das Wort aus dem Mund. Sie setzten sich in Reys Nähe und führten ihr Berufssäufer-Gesabbel fort. Einer von ihnen sah herüber, und Rey streckte ihm – automatisch – die Hand hin.
    »Gebt mir etwas zu essen.«
    Der Säufer sah ihn ernst an. Er ging etwas auf Abstand, um ihn besser zu fokussieren, und streckte – sehr pompös, fest davon überzeugt, dass er da etwas Unvergängliches von sich gab – die rechte Hand aus, um das Ganze noch zu unterstreichen. Lallend rief er aus: »Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit, zum ersten Mal, stellen Sie sich vor, bittet ein Hungerleider einen anderen Hungerleider um Almosen.«
    »Um etwas zu essen, Señor.«
    »Wo hast du denn deine Augen? Am Arsch?«
    »Ich hab Hunger.«
    »Aha, der Hunger hat dich wohl schon erwischt. Du siehst schlecht und weißt nichts. Jetzt hör mir mal gut zu …« Kameradschaftlich legte er ihm einen Arm um die Schultern. »Nimm dir einen Schluck. Zu essen gibt’s nichts. Was man machen muss, ist trinken und allen Kummer vergessen. Liebeskummer, Sorgen um Geld und Gesundheit. Wir sind auf diese Welt gekommen, um zu leiden. In dieses Tal der Tränen.«
    »Ich habe keinen Kummer, sondern Hunger.«
    »Wir alle haben Hunger, aber man muss trinken. Willst du eine Zigarette?«
    »Ich rauche nicht.«
    »Ein Schluck. Trink.«
    »Nein.«
    »Trink.«
    »Nein.«
    »Nimm schon, Jungchen, nimm einen Schluck. Sei nicht ungezogen.«
    Rey nahm die Flasche und trank einen winzigen Schluck. Es war pures Rattengift und explodierte in seinem Bauch wie eine
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