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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte
Autoren: Robert Schindel
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ihnen oder ob überhaupt jemand am offenen Grab sprach, doch nahm er es an, denn die Leute verharrten eine Weile, bevor sie in mehrere Richtungen auseinanderzugehen begannen. Eine kleine Gruppe kam dicht an Fraul vorüber. Er erkannte den Abgeordneten Mauss und dessen Vater, die links und rechts von Agnes Auer den Friedhof verließen. Der Schlächter von Wilna samt Nachwuchs gibt dem Wilhelm
die Ehre. Ob der sich darüber gefreut hätte, dachte Fraul und biss sich auf die Lippen. Als er sicher war, dass alle Trauerleute das Grab verlassen hatten, ging er hin und schaute auf die zugeschüttete Grube und das provisorische Kreuz.
    Er stand eine Weile da. Wind begann zu wehen und blies stärker. Fraul hielt sich den Hut. Die Jännerkälte ringelte sich um ihn und ließ ihn trotz des Wintermantels frösteln. Schließlich drehte er sich um und ging Richtung Ausgang. Zu seiner Überraschung kamen ihm die Tränen. Er schüttelte den Kopf und versuchte den Fluss zu unterdrücken. Tief aus der Brust drangen Schluchzlaute und wurden heftig. Fraul blieb stehen. Er lehnte sich mit der Hüfte an einen Grabstein, auf welchem Herbert Sandig 1918-1983 geschrieben stand. Fraul weinte. Die Zeit verstrich. Fraul merkte, dass Leute vorbeigingen, und duckte sich hinter dem Grabstein, presste sein Taschentuch auf den Mund, um die Geräusche des Weinkrampfs zu dämpfen.
    Schließlich kehrte er um. Er stand eine Weile allein vor dem Grab und wurde ruhig. Er sah sich um, nahm hernach seinen Hut vom Kopf und legte ihn auf den Erdhaufen.
    »Servus«, sagte er.
    Als er aus dem Friedhof herauskam, wurden ihm neuerlich die Augen nass. Der Wind fuhr ihm scharf ins Gesicht. Es war ihm, als würden ihm die Tränen in den Augen gefrieren, als würde er gezwungen sein, Eistränen zu weinen. Er vermied die Straßenbahn und ging die Simmeringer Hauptstraße stadteinwärts bis zur Florian-Hedorfer-Straße. Dort konnte er endlich den Einundsiebziger nehmen und heimfahren.
    40.
    »Der Satz ›Ab vier Uhr fünfundvierzig wird jetzt zurückgeschossen‹ wird fünfzig. Happy birthday, honey«, witzelte Boaz Samueli. Er saß mit seiner Freundin Sissy im Atelier von Herbert Krieglach. Hildegard brachte einen Grünen Veltliner, schenkte ein, Krieglach begnügte sich mit seinem Wodka.
    »Wenigstens wird mein Zeug endlich aufgestellt«, brummte er. »Jetzt haben sie unterirdisch über den Bombentoten noch eine riesige Metallplatte einziehen müssen. Das Denkmal wiegt.«
    Sissy wandte sich an Boaz: »Wolltest du dem Maestro nicht noch etwas sagen?«
    »Du kennst«, sagte mit gesenktem Kopf Samueli zu Krieglach, »meine Bedenken gegen die Judenfigur. Vielleicht solltest du …, es sind noch sechs Wochen Zeit bis zum ersten September …«
    »Nichts da«, unterbrach ihn Krieglach. »Es wäre technisch gar nicht mehr möglich, etwas zu ändern, und ich würde das auch nicht tun.«
    »Könntest du nicht …«
    »Herbert hat ohnedies …«, sagte Hildegard.
    »Sei still, Weiberl«, sagte Krieglach. »Das Ding ist fertig, Samueli. Man sagt doch von mir immer, ich sei ein Naturalist. Das bin ich nicht, aber war es nicht damals so mit den Juden? Ihr solltet das Bild von der Lotte Mendelssohn sehen, es heißt Reibpartie. Da regt sich von euch Kollegen keiner auf.« Krieglach erhob sich.
    »Haben wir wegen des Club Diderot alles ausgeredet? Wirst du sprechen, oder bist du dir zu fein?«
    »Ich wäre mir nicht zu fein«, sagte Samueli, »aber der Gaspari wird eine Rede halten.«
    »Der hat doch schon beim Ross geredet.«
    »Na und?«
    »Ihr schätzt mich nicht.« Krieglach holte sein Taschentuch heraus und wischte sich über die Stirn. »Heiß ist es. Ihr schätzt bloß das Pferd. Das Antifaschismusdenkmal ist euch nicht wichtig. Ihr werdet noch eure Wunder erleben. Also pfiat euch.«
    Boaz sah den Bildhauer erstaunt an, Sissy zog ihn am Ärmel. »Man dankt«, sagte sie. »Wir verzupfen uns.«
    Als die beiden weg waren, warf Krieglach das Taschentuch zu Boden.
    »Müssts ihr Weiber immer die Pappulatur offen haben?«
    »Ich weiß«, sagte Hildegard und lachte. »Ich hätte mich beinah verschnappt. Komm her, Bärli. Schimpf nicht.«
    »Komm du her«, sagte Krieglach und grinste.
     
    Zur Einweihungsfeier am Albertinaplatz hatten sich Demonstranten angemeldet. Nun standen sie, ein Häuflein, vor der Konditorei Janele und wurden von einem Polizeikordon daran gehindert, zum Ort des Geschehens vorzudringen. Vereinzelt wurden Rufe laut, und Pfeiferln trillerten gelegentlich. Am
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