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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf
Autoren: Sophie Hannah
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mit diesem Prozessunfähigkeitsscheiß! Sie haben es selbst gesagt, Jo Utting kann das nicht durchhalten.«
    »Als ich das sagte, dachte ich, es sei nur gespielt«, sagte Ginny. »Oder vielmehr, ich hoffte es.«
    »Was, Sie glauben, das sei echt?«, brüllte Simon. »Was für ein Schwachsinn! Niemand ist urplötzlich geistig behindert, nur weil er das gerne hätte.«
    »Nein, aber es gibt Zusammenbrüche. Nach einem solchen Nervenzusammenbruch kann fast alles passieren. Ich leugne ja nicht, dass Jos spezielle Reaktion ungewöhnlich ist …«
    »Nein. Ich höre mir diesen Scheiß nicht länger an. Nein!« Er donnerte mit der Faust gegen die Wand. »Sie haben doch die Anwältin gehört! Selbst sie fällt nicht darauf herein.«
    »Jo hat Kirsty ihr ganzes Leben vor sich gesehen, auch dann, wenn sie versuchte, nicht hinzusehen«, sagte Ginny traurig. »Sie hat Kirsty gehört, auch wenn sie versuchte, nicht hinzuhören. Ihr ganzes Leben lang. Sie hat zugesehen, wie ihre Mutter sich in der Pflege für ihre behinderte Tochter aufgerieben hat, und sie wusste, dass Hilarys Leben dafür nicht ausreichen würde. Wessen Leben würde als Nächstes geopfert werden, wenn Hilary nicht mehr da war? Wissen Sie, was für ein Gefühl das ist – ein Mensch, der abhängig ist, der alles nimmt und nichts gibt? Es ist, als würde man diesen Menschen in sich tragen. Man ist sich dieses Menschen ständig bewusst, und das bedeutet, dass man nie ganz man selbst sein kann. Führen Sie sich das vor Augen, und wenn dann noch der Stress der Aussicht auf eine lebenslange Gefängnisstrafe dazukommt, die Trennung von den Kindern …«
    »Sie tut Ihnen leid«, sagte Charlie und hatte das Gefühl, wenn man Ginny so zuhörte, müsste jeder Mitleid mit Jo haben. Und das wollte Charlie nicht.
    »Mir tun alle Beteiligten leid«, erwiderte Ginny diplomatisch. »Sie spielt das nicht nur, Simon. So leid es mir tut, aber Sie müssen da wieder reingehen und darauf bestehen, dass die Anwältin dafür sorgt, dass ihre Mandantin psychiatrische Betreuung bekommt.«
    »Keine Sorge«, sagte Simon. Er sah Ginny nicht an. Er sah niemanden an. »Ich gehe da wieder rein. Allein.«
    Er verschwand im Vernehmungsraum und knallte die Tür hinter sich zu.
    Ginny wandte sich an Charlie. »Er wird sie terrorisieren. Und ich bin machtlos. Sie müssen etwas tun.«
    »Was hat ihre Mutter an ihrem sechzehnten Geburtstag zu Jo gesagt?«, fragte Charlie. Sie hatte angenommen, dass Simon ihr alles erzählt hatte, aber offenbar stimmte das nicht. Und die Therapeutin verstand nicht, dass sie nicht die Einzige war, die unfähig war, Simon von dem abzuhalten, was er gleich tun würde. Darin lag seine besondere Macht, dass er jeden um sich herum machtlos machen konnte, wenn es ihm passte.
    »Sie hat Jo das Versprechen abgenommen, sich um Kirsty zu kümmern, wenn sie selbst nicht mehr dazu in der Lage sein sollte – etwas, was niemand von seinem sechzehnjährigen Kind verlangen sollte. In gewisser Weise ist Hilary für all die Morde und versuchten Morde verantwortlich, die stattgefunden haben.«
    Das nahm Charlie ihr nicht ab. »In Ihrem Beruf mag das anders sein, aber wir hier haben klare Richtlinien, was die Frage angeht, wer für einen Mord verantwortlich ist – nämlich derjenige, der den Mord begeht.«
    »Jo war ein braves Mädchen. Natürlich sagte sie ja. Von klein auf bekam sie eingebläut, wie wichtig die Familie sei. Die Familie ist wichtiger als du, das war die Botschaft, die ihre Mutter ihr nach Kirstys Geburt vermittelte. Jo selbst mit all ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen zählte nicht mehr. Etwas in ihr wusste, dass das nicht richtig war. Sie wollte, dass ihr Leben auch zählte, das Leben, das sie sich aufgebaut hatte und das sie wegen des Damoklesschwertes der familiären Verpflichtungen, das über ihr hing, nie richtig genießen konnte. Deshalb kam sie zu mir. Sie wollte, dass ich ihr half, daran glauben zu können. Ich denke, sie wollte den Mut besitzen, in aller Öffentlichkeit das zu sagen, was Amber später ohne jedes Schuldgefühl zu ihr sagte: »Niemand ist verpflichtet, sich das eigene Leben zu ruinieren, um anderen zu helfen.« Ginny zuckte die Achseln. »Vielleicht hätte ich Jo helfen können, vielleicht auch nicht. Wir Therapeuten nennen das Dehypnose. Wenn ein Kind von einem starken Elternteil eine Gehirnwäsche erfahren hat und etwas glaubt, das nicht wahr ist, kann die Wirkung nicht immer ungeschehen gemacht werden.«
    »Gilt das auch für die
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