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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe
Autoren: Ralf Isau
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gut auskennen, könnten Sie dann das Automobil meines Vaters nicht überreden, mich nach Hause zu fahren?«
    »Selbstverständlich könnte ich das. Aber warum sollte ich es tun?«
    »Vielleicht, weil ich Sie darum bitte …?«
    Der junge Mann fühlte sich, als würde ein elektrischer Strom durch seinen Körper fließen. Für Uberto, den unse n siblen Maschinenschinder, empfand er nur Verachtung, aber wie konnte er diesem Mädchen einen Wunsch a b schlagen? Er seufzte und stellte den Koffer wieder ab.
    Wortlos ging er erneut um die Motorhaube herum. Dafür gab es keinen bestimmten Grund, außer vielleicht jenen einen: Im Fenster der nach wie vor offenen Tür konnte er einen weiteren Blick auf Donna Lauras elfenhafte Gestalt erhaschen. Auf dem Rücksitz entdeckte er einen zerknüllten ockerfarbenen Mantel. Wieso trug sie ihn nicht, sondern trotzte in ihrer schmal geschnittenen, spitzenbesetzten, lindgrünen Bluse dem kühlen Klima? Wollte sie ihn mit ihrer Weiblichkeit verzaubern? Oder ging es ihr gar wie ihm, der weder die Novemberkälte noch die zornglühenden Blicke des Fahrers spürte?
    Mit einem Ruck riss er sich von ihr los und richtete seine Augen auf die Motorhaube. Langsam streckte er beide A r me aus und ließ abermals die Innenflächen seiner Hände dicht über das schwarz lackierte Blech wandern. Dabei summte er leise vor sich hin.
    »Was soll das werden?«, brummte der uniformierte Hüne.
    »Ich suche die kranke Stelle«, murmelte der junge Mann und setzte sein Summen fort.
    »Wie wär’s, wenn du mal in deinem Kopf nachschaust?«
    »Lass ihn, Uberto!«, verlangte Donna Laura.
    Die Hände des jungen Mannes legten sich langsam auf einen bestimmten Punkt im oberen Drittel der Motorhaube. Uberto schnaubte verächtlich. Seine Herrin schmunzelte zwar, verfolgte aber nichtsdestotrotz fasziniert das seltsame Benehmen des Besuchers aus Wien. Selbiges ließ sich von der Menschentraube vor dem Bahnhof sagen, die den o f fenkundig auf Benzinkutschen spezialisierten Nervenarzt tuschelnd bei seiner Arbeit beobachtete. Während seine Hände noch auf dem warmen Blech lagen, neigte der Fremde den Kopf zur Seite und sagte leise auf Deutsch: »Im Übrigen haben die leblosen Dinge keine Seelen, wie Sie es sich vorstellen mögen, Donna Laura.«
    »Sondern?«
    »Für jemanden, dem ihre Natur fremd ist, lässt sich das schwer erklären. Vielleicht kann ich es so ausdrücken: Die Weisheit und unerschöpfliche Kraft des Allmächtigen hat die gesamte Schöpfung hervorgebracht. Wir Menschen m ö gen darin zwar die Krönung sein, aber der göttliche Funke glimmt sogar im winzigsten Sandkorn, das sich drüben am Badestrand mit Millionen anderen in den Wellen wiegt. Wenn wir, wie es in der Thora heißt, ›im Bilde des Ewigen‹ erschaffen worden sind, dann muss sich in jedem unserer guten Werke auch er spiegeln.« Niklas Michel lächelte ve r legen. »Sobald man diese tiefe Wahrheit spürt, empfindet man sogar für ein Automobil Respekt.«
    »Das ist alles?«, flüsterte Donna Laura erstaunt.
    »Ich fürchte ja.«
    »Und Sie wollen mir tatsächlich weismachen, die M a schinen könnten die Achtung spüren, die Sie ihnen entg e genbringen?« Allmählich wurde die junge Frau wieder la u ter.
    Anstatt zu antworten, umrundete der Fremde erneut den Kühlergrill des Wagens, öffnete die Fahrertür und setzte sich ans Volant.
    »Das geht jetzt aber zu weit …«, beschwerte sich Uberto bei seiner Herrin.
    Sie hob nur ihre weiße Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, dann ließ sie sich auf den Rücksitz gleiten und beugte sich zu dem jungen Mann vor. »Sie haben Mut, Herr Michel.«
    Ihr warmer Atem strich an seinem Ohr vorbei, und sein Nacken kribbelte wie unter einer heißen Dusche. Sie war umgeben von einem betörenden Duft. Jasmin?, fragte er sich. Alles um ihn herum drehte sich. Er war zu keiner E r widerung fähig.
    »Sind Sie Jude?«
    Ihre überraschende Frage ließ ihn jäh zu Eis erstarren.
    »Sie brauchen keine Angst zu haben«, fügte sie rasch hi n zu.
    »Wie …?«
    »Woran ich das gemerkt habe?« Sie lachte wie ein kleines Mädchen und kümmerte sich nicht im Geringsten um die verdutzten Blicke, die von draußen zu ihnen hereinstarrten. »Sie haben gerade von der Thora gesprochen, Herr Michel. Nur Juden nennen die Bibel so. Sie halten mich für ein verwöhntes, hochnäsiges, dummes Mädchen, nicht wahr?«
    Der junge Mann fühlte einerseits den wohligen Schauer, den ihm ihr Atem im Nacken bereitete, andererseits den lähmenden
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