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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe
Autoren: Judith Schalansky
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geschah, wurde hier erschreckend eindrücklich demonstriert. Die Natur war nicht gerade schön anzuschauen auf dieser unentschiedenen Schwelle zwischen Kindheit und Adoleszenz. Eine Phase der Entwicklung. Landwirbeltiere im Wachstum. Die Schule ein Gehege. Jetzt kam die schlimme Zeit, das Lüften der Klassenzimmer gegen den Geruch dieser Altersstufe, Moschus und freigesetzte Pheromone, die Enge, die sich langsam ausformenden Körper, schwitzige Kniekehlen, talgige Haut, matte Augen, das unaufhaltsame Wachsen und Wuchern. Es war sehr viel einfacher, ihnen etwas beizubringen, bevor sie geschlechtsreif waren. Und eine echte Herausforderung, zu ergründen, was sich hinter ihren stumpfen Fassaden abspielte: ob sie uneinholbar voraus waren oder ob sie wegen gravierender Umbauten weit hinterherhinkten.
    Es fehlte ihnen an jeglichem Bewusstsein für ihren Zustand und erst recht an der Disziplin, ihn zu überwinden. Sie starrten vor sich hin. Apathisch, überfordert, ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Widerspruchslos gaben sie ihrer Trägheit nach. Die Kraft der Erdanziehung schien dreifach auf sie zu wirken. Alles war allergrößte Anstrengung. Jeden Funken Energie, der diesen Körpern zur Verfügung stand, verbrauchte die qualvolle Metamorphose, die der aufwändigen Entpuppung einer Raupe in nichts nachstand. Allerdings wurde nur in seltenen Fällen ein Schmetterling draus.

Das Erwachsenwerden forderte nun einmal diese unförmigen Zwischenformen, an denen sekundäre Geschlechtsmerkmale wie Geschwüre wucherten. Dass die Menschwerdung mühselig gewesen sein musste, wurde einem hier im Zeitraffer vorgeführt. Nicht nur die Ontogenese rekapitulierte die Phylogenese, sondern auch die Pubertät. Sie wuchsen. Tagein, tagaus. In Schüben und über den Sommer, so dass man seine liebe Not hatte, sie überhaupt wiederzuerkennen. Folgsame Mädchen verwandelten sich in hysterische Biester und aufgeweckte Jungs in phlegmatische Proleten. Hinzu kam das plumpe Erproben der Partnerwahl. Nein, originell war die Natur nicht. Aber gerecht. Es war ein krankheitsähnlicher Zustand. Man konnte nur abwarten, dass er vorüberging. Je größer und älter ein Tier werden konnte, desto länger zog sich die Jugend hin. Der Mensch brauchte zu seiner Reifung rund ein Drittel seiner gesamten Lebenszeit. Im Schnitt dauerte es achtzehn Jahre, ehe ein Menschenjunges für sich selbst sorgen konnte. Wolfgang musste für seine Kinder aus erster Ehe sogar noch bis zum siebenundzwanzigsten Lebensjahr zahlen.
    Da saßen sie also, die blutigen Lebensanfänger. Spitzten Bleistifte und malten die Tafelpyramide ab, die Köpfe hebendsenkend im Fünfsekundentakt. Noch nicht ausgebildet, aber mit einer dreisten Selbstverständlichkeit, mit einem Absolutheitsanspruch, der schamlos und anmaßend war. Sie waren keine Kinder mehr, die sich ständig überall anlehnen mussten und unter fadenscheinigen Vorwänden die Individualdistanz missachteten, Berührungen erzwangen und einen unverhohlen anstarrten wie Halbstarke im Überlandbus. Das waren junge Erwachsene, bereits zeugungsfähig, aber noch unreif wie zu früh geerntetes Obst. Für sie war Inge Lohmark bestimmt alterslos. Wahrscheinlicher war sogar, dass sie ihnen einfach nur alt vorkam. Ein Zustand, der sich für ihre Schüler nicht mehr ändern würde. Wer jung war, wurde älter. Alt blieb alt. Ihre Halbwertszeit hatte sie längst überschritten. Zum Glück. So blieb sie wenigstens davon verschont, sich vor ihren Augen merklich zu verändern. Ein beruhigender Gedanke. Sie hingegen würde diese Menschen aufwachsen sehen, wie sie andere hatte aufwachsen sehen. Und dieses Wissen machte sie mächtig. Noch waren alle einander zum Verwechseln ähnlich, ein Schwarm auf dem Weg zum Klassenziel. Aber innerhalb kürzester Zeit schon würden sie perfide eigenständig werden, die Fährte aufnehmen und Komplizen finden. Und sie selbst würde anfangen, die lahmen Gäule zu ignorieren, und heimlich auf einen der Vollblüter setzen. Ein paar Mal hatte sie das richtige Gespür gehabt. Ein Pilot war dabei gewesen, eine Meeresbiologin. Gar keine schlechte Ausbeute für eine Stadt in der Provinz.
    Ganz vorn hockte ein verschrecktes Pfarrerskind, das mit Holzengeln, Wachsflecken und Blockflötenunterricht aufgewachsen war. In der letzten Reihe saßen zwei aufgedonnerte Gören. Die eine kaute Kaugummi, die andere war besessen von ihrem schwarzen Hengsthaar, das sie pausenlos glättete und strähnchenweise untersuchte. Daneben
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