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Der große Stier

Der große Stier

Titel: Der große Stier
Autoren: Robin Sanborn
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Können Sie … mich hören?«
    Paul drückte sein Gesicht gegen das Glas und warf einen forschenden Blick in den Raum, als sich unter dem Klavier eine dunkle Gestalt regte.
    »Können Sie mich hören? Bitte, können Sie mich hören?« Der Käfig ist wahrscheinlich schalldicht, dachte sich Paul und überlegte, ob er den Mut haben würde, die Tür auszuprobieren. »Ich kann Sie nicht sehen«, murmelte er entschuldigend.
    Aus dem Käfig kam ein einzelner Klavierton.
    »Heißt das, daß Sie mich hören können?«
    Wieder der gleiche einzelne Ton.
    »Wenn ein Ton ›ja‹ bedeutet«, sagte Paul und hielt inne, um sich den Mund mit dem Handrücken abzuwischen, »dann nehmen Sie zwei Töne für ›nein‹.«
    Stille.
    »Spielen Sie ein ›nein‹, verdammt noch mal!«
    Zwei Töne.
    »Ich habe lange nach Ihnen gesucht.« Paul merkte, daß er beinahe laut rief, und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich heiße Paul Odeon, wissen Sie, wer ich bin?«
    Ein einzelner Ton.
    »Haben Sie … keine Angst!«
    Zwei Töne.
    »Ich muß Ihnen sagen, was geschehen wird. Über uns, im Adventuary, sind Tausende von Menschen, die Sie lieben. Aber es sind auch Leute da, die diese Menschen täuschen wollen und die auch Sie täuschen wollen. Ihre Oper wird jetzt gerade gespielt, und wenn sie zu Ende ist, erwarten die Schneekinder, erwartet die ganze Welt, den Schöpfer der Oper zu sehen. Dieser Schöpfer sind Sie, Richard.«
    Ein einzelner Ton, diesmal lauter.
    »Es gibt einen Durchgang, der von diesen Räumen zur Bühne im Adventuary führt. Ich werde Sie dorthin bringen. Ich mache jetzt die Tür auf, und Sie müssen mit mir kommen. Wir müssen Ihren Leuten die Wahrheit zeigen, Richard, Sie müssen Die Neun verneinen.«
    Als Antwort erklangen zwei heftige Töne, von einem scharrenden Geräusch begleitet.
    »Die Welt wird Stier sehen!« Paul eilte vom Fenster weg, lief an die Tür des Käfigs – und erstarrte.
    »Paul!« Adriannes Stimme zitterte, und sie packte den weiß-uniformierten Wächter neben ihr am Arm. »Wie hast du – warum?«
    »Es ist Samstag«, sagte Paul, ohne zu wissen weshalb. Seine Hand fuhr blitzschnell an seine Tasche, als der Wächter mit einem drohenden Schritt auf ihn zuging.
    »Was hast du denn erwartet, fertigzubringen?« Adrianne gebot dem Wächter mit einer einfachen Handbewegung stehenzubleiben.
    »Ich habe mich im Hotel gelangweilt«, sagte Paul und sah nach dem Türschloß von Stiers Käfig zurück.
    »Geh wieder ins Hotel, Paul. Du kannst nicht aufhalten, was vorbestimmt ist.«
    »Zum Teufel noch mal, sicher kann ich das …«
    »Dieses Mal kann ich es nicht erlauben.« Adrianne nickte dem Wächter zu, einem gewaltig großen Mann mit flammend blondem Haar und vom Lehm völlig glasigen Augen. »Glaub mir dies eine Mal, geh wieder zurück, und wenn es vorbei ist, werde ich dir eine neue Welt zeigen.«
    »Also gut, Adrianne«, sagte Paul und packte dabei die Zange in seiner Tasche fester. »Würdest du dann wenigstens diesen großen Tölpel mich hinausbegleiten lassen?«
    Sie nickte dem Wächter zu.
    Paul wartete, bis der Wächter sich umgedreht hatte und vor ihm stand, zog mit einem Ruck die Zange heraus und schlug ihn auf den Hinterkopf. Der Wächter fiel auf ein Knie, streckte sich dann nach vom aus, als ein zweiter Schlag gegen sein Ohr krachte. Adrianne grub ihre Fingernägel in Pauls Wangen ein und riß seinen Kopf zurück. Er schlug wie wild mit der Zange um sich, dann hörte er ein krachendes Geräusch und einen lauten Schrei. Ihre Hände fielen von seinem Gesicht herunter, als er sich umdrehte und sah, wie ein beinah genau quadratischer Blutfleck sich auf ihrem Gewand ausbreitete, gerade über ihrem Knie.
    »Laß ihn sterben!« Adriannes Augen waren fast ganz weiß. »Jesus Christus! Mein Gott! Laß ihn sterben!«
    Sie schlug mit beiden Fäusten auf Paul ein. Paul packte ihre Arme und zerrte sie halb bis zur Tür von Stiers Käfig.
    »Es ist Essenszeit!« Er riß die Tür auf, stieß Adrianne hinein und knallte die Tür wieder zu.
    Die blutige Zange steckte er in seine Tasche und stolperte in das Studio hinaus.
    Adriannes Nägel hatten vier Kratzer in sein Gesicht gegraben, aus denen nun Blut troff. Er betrachtete sich eingehend in der Spiegelreihe am Make-up-Tisch. Er bürstete sich das lange Haar aus der Stirn zurück und blickte auf das Standardfoto von Stier, das auf dem Tisch aufgebaut war. Dann schob er die Ärmel seiner Parka bis an die Ellbogen zurück und tauchte beide Hände in das Gefäß
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