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Der große Bio-Schmaeh

Titel: Der große Bio-Schmaeh
Autoren: Clemens G Arvay
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und der Industrie lastete. Als ich »Der stumme Frühling« von Rachel Carson las – ein Buch über die verheerenden Folgen des landwirtschaftlichen Pestizideinsatzes für Mensch und Umwelt –, war ich schockiert darüber, dass dieses Werk bereits in den 1960er-Jahren erschienen war und die Problematik dennoch unter den Konsumentinnen und Konsumenten so wenig bekannt war. Wir kauften dies, wir kauften jenes, kaum jemand wusste, wie unsere Nahrung eigentlich produziert wurde. Die meisten Menschen hatten zum Beispiel keine Ahnung über die Herkunft unserer Milch, außer, dass sie in Getränkekartons abgefüllt wurde, die alle dieselbe Form hatten – unter welchem Markennamen auch immer man die Milch kaufte. Auch Butter und viele andere Lebensmittel trugen längst die uniforme Handschrift der Großindustrie. Unsere Nahrung war zum wachsenden Industriezweig geworden, in dem es um ein erklärtes Ziel ging: möglichst große Mengen auf möglichst kleiner Fläche möglichst schnell und unter Maximierung der Gewinnspanne zu produzieren. Nach allem, das ich in dieser Zeit las, hörte und herausfand, war mein Vertrauen in die Lebensmittelbranche völlig erschüttert. Da die Information, die wir aus der bunten und heilen Welt der Werbung erhielten, offensichtlich radikal zensiert und beschönigt war, beschloss ich, mir die Realität mit eigenen Augen anzusehen.
    Ich war neunzehn Jahre alt, als ich anfing, zu den Produktionsstätten hinauszufahren, aus denen unsere Lebensmittel stammten. Das war 1999. Ein solches Vorhaben ist schwer zu realisieren, da Besucherinnen und Besucher, die unbequeme Fragen stellen, in der Lebensmittelindustrie nicht willkommen sind. Dort arbeitet man lieber hinter streng verschlossenen Türen, während man sich die Idylle versprechenden Fotos in die Auslagen hängt. Ich war selbst verwundert, als es mir zum ersten Mal gelang, eine industrielle Schweinemastanlage von innen zu besichtigen, in der für eine große Supermarktkette unter dem Schlagwort »vom Bauernhof« Tiere gehalten wurden. Wie dehnbar der Begriff »Bauernhof« ist, wurde mir erst an diesem Tag bewusst. Ein andermal verschlug es mich ins Marchfeld, das durch die Werbung als »Gemüsekammer« Österreichs bekannt geworden war. In TV-Werbespots wurden uns Bäuerinnen und Bauern präsentiert, die auf nostalgisch wirkenden Traktoren Feldwege entlangzuckelten und dabei Anhänger mit buntem Gemüse transportierten. Die Realität, die ich auf meinen Erkundungen im Marchfeld vorfand, ernüchterte mich allerdings schlagartig. Die Region erschien mir als eine Art »Hot Spot« der Agrar- und Lebensmittelindustrie. In der ebenen Landschaft lassen sich schier nie endende Monokulturen anlegen, die mit großen und schweren Maschinen nach Lust und Laune bewirtschaftet werden können. Ein Eldorado der Großindustriellen! Wer heute Ackerland von hundert Hektar im Marchfeld bewirtschaftet (das entspricht einem satten Quadratkilometer), zählt zu den Kleinsten der Region. Das Marchfeld ist ein Landstrich, der von seinen früheren Landschaftselementen weitgehend ausgeräumt wurde. Ich besichtigte damals außerdem eine Brotfabrik, die direkt neben den Gebäuden eines Stahlkonzerns angesiedelt war und die selbst den Charme eines Stahlkonzerns hatte, eine große Milchverarbeitungsfabrik, eine Käserei im Format XXL, einen Schlachthof sowie die Fließbänder einer »Produktionsanlage« für Küken.
Ich wurde Bio-Konsument
    Danach hatte ich einfach keine Lust mehr, industrielle, in Massen produzierte Nahrungsmittel zu mir zu nehmen, die wie Pappkarton aus den Fabriken geschossen wurden. Ich hatte die Realität mehrfach mit eigenen Augen gesehen und gegen die idyllischen Bilder und Versprechen aus der Werbung war mir eine löwenstarke Haut gewachsen. Ich wollte Nahrungsmittel, die diese Bezeichnung noch verdienten: gesunde, vielfältige Produkte, die ökologisch und fair produziert wurden und die nicht die Handschrift immer wieder derselben Konzerne trugen. Ich wollte keine Lebensmittel-»Industrie«, sondern eine Nahrungsmittel-»Kultur«. Ich wünschte mir Transparenz und Verantwortungsgefühl seitens der Produzentinnen und Produzenten. Ich wollte nicht nur wissen, wer unsere Nahrung herstellte, sondern auch, wie dies geschah. Gleichzeitig erklärte ich mich mit jenen Bäuerinnen und Bauern solidarisch, die unter die Räder dieser Industrie gekommen waren. Der Siegeszug der Großkonzerne führte auch zu einem kulturellen Verlust, da traditionelles Wissen und
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