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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman
Autoren: Jennifer Egan
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diesem Gewirbel, das ihm wie ein Beweis für die explosive Chemie zwischen Kaffee und Gold vorkam. Eine hektische Aktivität, die ihn selbst meistens im Kreis herumgeführt hatte, wenn das keine treffende Beschreibung für Lust war! Manchmal störte es Bennie nicht einmal, dass die Lust verschwunden war; es war eine Art Erleichterung, nicht dauernd irgendwen ficken zu wollen. Die Welt war zweifellos ein friedlicherer Ort ohne den halben Ständer, seinen ständigen Begleiter, seit er dreizehn gewesen war, aber wollte Bennie in einer solchen Welt leben? Er nippte an seinem mit Gold angereicherten Kaffee und schielte zu Sashas Busen hinüber, der der Lackmustest geworden war, an dem er seine Fortschritte maß. In all den Jahren, in denen sie nun schon für ihn arbeitete, zuerst als Praktikantin, dann als Vorzimmerdame und schließlich als seine Assistentin (und das war sie geblieben, mit einem seltsamen Widerstreben, selbst eine Führungsrolle zu übernehmen) war er immer scharf auf sie gewesen – doch sie hatte es jedes Mal irgendwie geschafft, sich Bennie zu entziehen, ohne jemals Nein zu sagen, seine Gefühle zu verletzen oder ihn zu verärgern. Und jetzt: Sashas Busen in einem dünnen gelben Pullover, und Bennie empfand nichts. Nicht das geringste Anzeichen harmloser Erregung. Würde er überhaupt noch einen hochkriegen, wenn er es wollte?
    Als er losfuhr, um seinen Sohn abzuholen, wechselte Bennie zwischen den Sleepers und den Dead Kennedys ab, Bands aus San Francisco, mit denen er groß geworden war. Er lauschte auf unsaubere Stellen, ob man hören konnte, dass da echte Musiker an einem echten Ort echte Instrumente spielten. Heutzutage war dieses Echte (wenn es das überhaupt gab), meistens die Folge von Analogprogrammierung, kein echtes Aufnahmetape – alles bloße Effekte in den blutleeren Konstrukten, die Bennie und seinesgleichen auf den Markt warfen. Er arbeitete fieberhaft und unermüdlich, um alles richtig zu machen, oben zu bleiben, Songs zu produzieren, die das Publikum liebte, kaufte und sich als Klingelton herunterlud (und natürlich klaute) – vor allem, um den weltweit tätigen Ölkonzern zufriedenzustellen, dem er seine Firma vor fünf Jahren verkauft hatte. Aber Bennie wusste, was er der Welt da servierte, war Scheiße. Zu steril, zu clean. Es lag an der Präzision, der Perfektion; an der Digitalisierung, die jegliches Leben aus allem saugte, das durch ihre mikroskopisch feinen Maschen gequetscht wurde. Film, Fotografie, Musik: tot. Ein ästhetischer Holocaust! So was würde Bennie natürlich nie laut sagen.
    Aber die alten Songs rissen ihn mit und versetzten ihn in die Zeit zurück, als er sechzehn war: Bennie und seine Highschoolclique – Scotty und Alice, Jocelyn und Rita –, die er seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte (abgesehen von einer verstörenden Begegnung mit Scotty in seinem Büro vor einigen Jahren), und doch hatte er noch immer das Gefühl, er würde sie in San Francisco mit grünen Haaren und Sicherheitsnadeln in der Warteschlange vor den (längst nicht mehr existenten) Mabuhay Gardens antreffen, wenn er sich dort mal samstagabends sehen ließe.
    Und während sich Jello Biafra durch »Too drunk to fuck« grölte, schweifte Bennie in Gedanken ab zu einer Preisverleihung vor einigen Jahren, wo er eine Jazzpianistin als »unvergleichlich« vorstellen wollte und stattdessen »unerträglich« gesagt hatte, und das vor zweitausendfünfhundert Leuten. Er hätte gar nicht erst versuchen sollen, »unvergleichlich« zu sagen – es war kein Wort für ihn, zu abgehoben: Schon als er seine Rede vor Stephanie geübt hatte, war es ihm jedes Mal im Mund stecken geblieben. Aber es passte zu der Pianistin, die ellenlanges leuchtend goldenes Haar hatte und die außerdem (das hatte sie durchblicken lassen) ein Harvardexamen vorweisen konnte. Bennie hatte sich vorschnell erträumt, sie ins Bett zu kriegen und dieses Haar über seine Schultern und seine Brust gleiten zu lassen.
    Er lungerte jetzt vor Christophers Schule herum und wartete darauf, dass dieser Erinnerungsschub vorbeiging. Beim Vorfahren hatte er gesehen, wie sein Sohn mit seinen Freunden den Sportplatz überquerte. Chris war tatsächlich ein bisschen gehüpft und hatte dabei einen Ball in die Luft geworfen, doch als er sich in Bennies gelben Porsche fallen ließ, war jeder Anflug von Unbeschwertheit verflogen. Nur wieso? Wusste Chris irgendwoher von dieser in die Hose gegangenen Preisverleihung? Bennie sagte sich, das wäre
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